Der König verzog zynisch die Lippen und verengte seine Augen, ging aber weiter. Vor Vaaks blieb er stehen, blickte ihn ebenso streng an. »Vaaks, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du jemanden davon unterrichten sollst, wohin du gehst, bevor du die Festung verlässt?«
Vaaks senkte ergeben den Kopf. »Vergebung, Vater. Ich habe es vergessen.«
Das war eine kleine Notlüge, denn er hatte niemandem davon erzählt, dass er sich mit Fenjin in der Stadt traf, weil Xaith ihn dann begleitet oder zumindest verfolgt hätte, um ihm die Zeit mit Fenjin zu vermiesen. Er hatte doch nur … einen Mittag ohne einen Streit zwischen seinem besten Freund und seinem Bruder verbringen wollen. Nur einen Nachmittag, an dem Xaith nicht Fenjins Herz brach.
Der König zog eine Augenbraue hoch, er wusste, dass Vaaks log, doch er ging nicht näher darauf ein. Vielleicht später, aber dann nicht vor allen anderen. »Die Familie geht immer vor, mein Junge«, sagte er zu Vaaks, »und wenn du es noch einmal vergisst, dann bleibst du für drei Mondzyklen auf der Festung, ohne Besuch von Fenjin!«
Vaaks riss beinahe unmerklich die Augen auf. Drei Monate ohne Fenjin eingesperrt auf der Festung waren wirklich eine ernstzunehmende Strafe für ihn. Solange konnte er nicht ohne Fenjin sein, der Rotschopf war der Einzige, bei dem er sich wirklich entspannen konnte. Nicht, dass er seine Familie nicht mochte, er liebte sie alle, aber sie waren … anders als er. Riath, der große Krieger, May, die nicht weniger große Kriegerin, Sarsar, der Belesene, Xaith, der mächtige Hexer. Sie alle waren etwas Besonderes, und Vaaks hatte oft das Gefühl, mithalten zu müssen. Wobei dieser Eindruck nur in seinem Kopf stattfand, seine Familie nahm ihn, wie er war. Trotzdem war er nicht gerade der Interessanteste von ihnen. Bei Fenjin fühlte er sich einfach … normal. Er musste niemandem etwas beweisen, musste nicht mit ihm mithalten. Fenjin gab ihm das Gefühl, besonders zu sein. Wenn auch nicht für die ganze Welt, so jedoch für ihn.
Der König ging weiter und blieb vor Sarsar stehen. »Und du …« Er runzelte die Stirn und überlegte, als suche er nach einem Gedanken.
Sarsar blickte ihn ungerührt an und wartete.
Der König zuckte mit den Achseln. »Guten Appetit!«
Sarsar neigte den Kopf. »Danke.«
Es gab nichts, wofür man ihn tadeln müsste. Es sei denn, es würde dem König missfallen, dass Sarsar in der Bibliothek saß und alte Schriftrollen studierte. Es gab nichts, was Sarsar lieber tat.
»Kommt!«, der König wandte sich ab und winkte sie an den Tisch. »Esst! Ihr solltet heute alle früh zu Bett gehen.«
Doch nach dem Tadel hatte niemand besonders großen Hunger. Außer Xaith, der sich keiner Schuld bewusst zu sein schien, und Sarsar, der sich nichts zu Schulden kommen gelassen hatte, stocherten alle mit hängenden Köpfen in ihrem Essen, während Wexmell versuchte, ein zwangloses Gespräch ins Leben zu rufen.
Am stillsten war es auf Riaths Platz. Aber wie könnte es auch anders sein, er hatte von ihnen allen den härtesten Tadel abbekommen. Doch das war nichts Neues, seitjeher bekam er den meisten Ärger. Es war, als würde er, je mehr er versuchte, die Anerkennung seines Vaters zu erhaschen, dessen Zorn auf sich ziehen.
Mitleidvoll schielte Vaaks zu seinem Bruder, der schräg auf der anderen Seite der Tafel saß und auf seinen Teller starrte. In seinen grünen Augen schimmerte es.
Nach dem Essen schlug Xaith die Zeit bis zum Zubettgehen mit Malen tot.
Er malte wirklich sehr gerne, ob mit Kohle in sein Buch, das er immer unter seinem Mantel verbarg, oder mit Pinsel und Farbe auf einer schneeweisen Leinwand, die er mit düsteren Schattierungen bedeckte – der Spiegel seiner Seele, wie Wexmell einmal besorgt zu dem König geflüstert hatte, als Xaith gerade an ihrer Tür vorbei gegangen war. Vielleicht stimmte das, aber es ärgerte Xaith immer, wenn Wexmell versuchte, in ihn hineinzusehen.
Xaith mochte einfach das Malen, konnte Wexmell sich nicht damit abfinden? Musste er immer eine tiefe Bedeutung in allem sehen, was Xaith tat? Xaith wollte nicht reden, er wollte nur malen.
Jede Art, die sowohl seinem Verstand und Händen eine Beschäftigung gab, zelebrierte Xaith mit Leib und Seele. Beim Malen war er mit dem Herzen dabei, konnte alles ausblenden oder tiefe Gedanken ausdrücken.
Wer brauchte schon Worte, wenn er Bilder malen konnte.
Er zog zwei weitere Striche mit dem Pinsel und trat dann zurück. Ihm war warm, obwohl er den Mantel ausgezogen hatte und kein Feuer brannte. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die Stirn, die unter seinen schwarzen Haaren schwitzte, und hinterließ eine rote Spur frischer Farbe auf seiner blassen Haut. Die wenigen Kerzen im Raum warfen flackerndes Licht auf seine lange, schlanke Kehle. Der Widerschein inspirierte ihn und ebenso sein verdammtes Verlangen.
In letzter Zeit hatten sich seine Bilder verändert. Er malte gern das, was ihm vor die Augen trat und er festhalten wollte. Seine Raben, wie sie sich gegenseitig mit den Schnäbeln das Federkleid putzten. Den Mond vor seinem Fenster, die Erinnerung an Galia, goldene Getreidefelder im Mondschein, ein düsterer Wald, nachts, erhellt durch frisch gefallenen Schnee. Dunkle und kalte Farben. Doch seit kurzer Zeit hatten seine Bilder keine klaren Linien mehr, zeigten keine Szenerien. Striche, Kratzer, viel Rot und Beige, wie Blut auf Haut. Viel Haut. Hände, Arme, Kurven, Augen, Lippen, Fänge – blutige Fänge. Purpurne Laken, ein nackter, sich räkelnder Leib, über den in filigranen Linien Blut floss und ihn schmückte.
Das frustrierte ihn, er hatte sich ablenken wollen, aber ganz gleich, was er anfing, alles lief auf denselben Gedanken hinaus. Auf die Ruhelosigkeit, die Hitze in ihm. Und erwachte erst der eine Hunger, wurde auch der andere in ihm laut.
Und nun war er nicht zufrieden mit seinem Bild, ihm fehlte die Leidenschaft, die er seit Wochen versuchte, aus seinem Inneren auf die Leinwand zu bringen. Dieses leise Summen in seinem Leib, das seine Eingeweide heftig vibrieren ließ und in den Venen brannte. Dieses unaufhörliche Summen, das langsam, aber stetig anschwoll, mal schlimmer, mal leiser, aber niemals verklang. Ein Hornissennest, das sich in seiner Selbstkontrolle eingenistet hatte, und jeder Einfluss von außen kam einem Stock gleich, der hineinstach. Ein Druck, eine Unruhe, ein Drängeln, das ihm jederzeit die Kontrolle über sich selbst kosten konnte. Und es war schwierig, sich davon abzulenken, denn sein Verstand schien wie besessen von diesem Prickeln in seinem Körper. Es war, als hätte er Hunger, großen Hunger, richtigen Heißhunger … aber ganz gleich was er aß und wie viel davon, nichts stillte diesen Hunger, nichts verschaffte ihm Befriedigung. Es würde schmerzen, er kannte es aus Erfahrung, wenn er sich nicht irgendwie davon ablenkte. Irgendwann wurde jeder Hunger zu Schmerz, wenn man ihn nicht stillen konnte. Und darauf war er gewiss nicht erpicht.
An jenem Abend war es wieder besonders schlimm, die Hitze stieg, er konnte keinen Augenblick ruhig sitzen, der Pinsel flog nur so über die Leinwand, verteilte rote Farbe ohne Sinn oder Verstand, nur Linien, die sich irgendwie fanden und verbanden, bis die Andeutung eines Rückens zu erkennen war, der Schwung eines wohlgeformten, kräftigen Hinterteils…
Als Xaith sich bewusstwurde, was er da malte, ging ein starkes Beben durch seinen Leib, woraufhin alles in seinem Inneren zu krampfen schien. Er keuchte, aber nicht vor Schmerz. Noch nicht.
Fluchend warf Xaith den Pinsel gegen die Leinwand und trat gegen die Staffelei, woraufhin alles polternd zu Boden fiel. Er wandte sich ab und lief unruhig in seinem Zimmer auf und ab, während er an seinem Hemd zerrte, als wollte er es sich vom Leib reißen. Er fächerte auf diese Weise Luft auf die glühende Haut und versuchte, zu atmen. Aber seine Gedanken schweiften ab, hefteten sich auf das Gefühl in seinem Körper, dem brüllenden Hunger in Brust und Lenden. Er hätte diesen Druck gerne herausgebrüllt, konnte sich mit tiefen Ein- und wieder Ausatmen jedoch langsam wieder beruhigen.
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