Ein Mensch … es schien so unwirklich, nach all der Zeit, einem anderen Menschen zu begegnen.
Er ging Seite an Seite mit Fen durch das Lager. Es war still, nur das Flackern der Zeltplanen im Wind und das leise Klappern des Holzgeschirrs auf den Sammlungsplätzen waren zu hören, ein paar Singvögel zwitscherten in den Baumkronen über ihnen. Dichter Urwald verbarg das braune Leder der Zelte, sodass ihr Lager kaum zu erkennen war. Späher saßen weit oben verborgen in den Ästen und hielten nach Eindringlingen Ausschau, aber so tief wagte sich kaum jemand in den Urwald. Bisher hatte sie noch nie jemand gefunden.
Die meisten Männer und Frauen tummelten sich vor ihren Unterkünften, weil sie wissen wollten, wie es um den befreiten Menschenmagier stand. Wer er war, warum solch ein Geheimnis aus ihm gemacht wurde und ob er durchkam.
Doragon hatte dem Häuptling geraten, es für sich zu behalten, damit im Lager keine Unruhe ausbrach. Immerhin waren sie eine Gemeinschaft aus einem friedlichen Stamm und befreiten Sklaven, die nur ihre neugewonnene Freiheit in Frieden verbringen wollten, und der Magier bedeutete unweigerlich einen Angriff der Herrin. Sofern sie sie denn finden würde.
Folglich war es vorerst klüger, niemandem Angst einzujagen, wenn es nicht sein musste. Diese armen Leute hatten ein wenig Ruhe und Sicherheit in ihrem Leben verdient.
Das Zelt des Häuptlings lag mittig im Lager, Rauch stieg aus der spitzen Öffnung des Daches, als es zwischen den anderen Unterkünften auftauchte. Fen schlug die Plane zurück und ließ Doragon eintreten. Er selbst wartete draußen. Nicht, dass er nicht hineindurfte, aber er hasste enge Räume. Selbst wenn es wie aus Eimern aus dem Himmel goss, stand er lieber im Regen, als in einem trockenen Zelt Schutz zu suchen.
Als Sklave hatte man ihn in eine Truhe gesperrt und erst herausgelassen, wenn man seine Dienste benötigte. Jeder geschlossene Raum war für ihn das pure Grauen. Niemand im Lager würde ihn je drängen, in ein Zelt zu treten. Wie ein Faultier schlief er nachts auf einem Ast in den Bäumen.
Als Doragon an Fen vorbei schlüpfte, nickten sie sich noch einmal zu. Doragon musste sich bücken, um durch den Eingang zu gelangen.
Im Zeltinneren war es dunkel und warm. Ein kleines Feuer brannte in der Mitte, niedrige Bänke waren mit Pelzen bedeckt, Teppiche lagen auf dem Boden, und an den runden Wänden standen winzige Tische mit Räucherwerk und Kräutertees.
Das Stammesoberhaupt saß hinter dem Feuer, ein großer, stolzer Vogelmann mit feingliedrigem, menschlichem Körperbau, großen, majestätischen Flügeln, wenn er die Arme ausbreitete, einem federbedeckten Körper, den er nur mit einem Lendenleibchen verhüllte, und dem Kopf eines Adlers. Er war allein, niemand bewachte ihn, und seine klugen Raubvogelaugen trafen Doragons Gesicht.
»Setz dich, mein Sohn«, sagte er in der Sprache des Stammes.
Doragon streifte die Kapuze ab und setzte sich vor das rauchende, knisternde Feuer, während er seine dicke Ledermaske löste und sich das dunkelbraune, wellige Haar aus dem Gesicht strich. Es reichte ihm bis zu den breiten Schultern.
»Er kann nicht hierbleiben.«
Die Worte hingen einen Moment schwer in der Luft. Doragon hatte geahnt, dass es so kommen würde, dennoch erschütterte ihn diese Entscheidung.
»Sie wird ihn hier finden«, fürchtete der Häuptling, »und ihn sich zurückholen. Das darf nicht geschehen. Wir haben den Feind seines Vorteils beraubt. Es liegt in unserer Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass es so bleibt.«
Doragon saß auf seinen Knien und hielt den Kopf gesenkt. »Ich weiß«, hauchte er schwer vor Kummer, »aber wohin sollen wir ihn bringen?«
Ein Laut, der gut und gern als amüsiertes Schnauben durchgehen konnte, erklang aus der Richtung des Häuptlings. »Du weißt, wohin. In den Westen, zu seinem Volk. Sie werden ihn zu schützen wissen.«
Doragon spürte eine Enge in der Brust, die ihm die Fähigkeit frei zu atmen stahl. Er rieb die schwitzenden Hände über seine Beine. »Heddo, ich halte dies für keine gute …«
»Was sollen wir sonst tun, Ragon? Er muss in das Land, wo er hingehört. Im Westen wird er sicher sein, und die Herrin kann weder ihm noch uns schaden. Du musst ihn dahin bringen, Doragon, du musst sie alle warnen.«
Doragon schüttelte den Kopf, doch nicht um sich zu weigern, sondern aus Verzweiflung. Er hob seinen Blick und sah Heddo an. »Das hier ist mein Volk! Ich lasse euch nicht allein.«
Der Häuptling sah ihn mit seinem Adlergesicht mitfühlend an. »Du kannst nicht ewig vor dem davonlaufen, wer du bist, Doragon. Der Stamm wird immer dein Zuhause sein, aber deine Heimat und dein Volk befinden sich im Westen. Es ist vielleicht Fügung, dass du nun aufbrechen und dort hinreisen wirst.«
Doragon starrte ungläubig in die Flammen, ohne etwas zu erkennen. Er hatte geahnt, dass er diese Reise antreten musste, als er den Menschenmagier befreit hatte, doch hatte er sich nicht mit diesem Gedanken auseinandersetzen wollen. In den Westen zu reisen war nie sein Wunsch gewesen, der Osten war seine Heimat.
Der Häuptling beugte sich vor und sprach eindringlich aber gleichwohl bittend auf ihn ein. »Wem sonst würden sie vertrauen, wenn nicht einem von ihren? Du musst ihnen sagen, was ihnen bevorsteht. Bring den Jungen in Sicherheit, wenn sie dich und ihn sehen, werden sie dir Glauben schenken. Warne sie und bitte sie um Hilfe für uns.«
Doragon starrte in die flehenden Augen des Häuptlings und untersagte sich jeden Protest. Er wusste, was diesen das Fürchten gelehrt hatte. So viele Sklaven sie auch befreien konnten, sie waren keine Armee.
»Bitte sie um Hilfe«, wiederholte der Häuptling dringlich.
Doch Doragon musste noch einmal bedauernd den Kopf schütteln, beinahe zornig hielt er dagegen: »Aber sie werden uns nicht helfen.« Den Menschen war das Schicksal der Tiervölker schon immer gleich gewesen.
»Einer wird es tun«, der Häuptling sah ihm tief und eindringlich in die Augen, »aber nur wenn du ihn darum bittest.«
Diese Hoffnung teilte Doragon nicht, aber er würde sich dem Willen seines Häuptlings nicht widersetzen.
»Sobald der Junge bei Kräften ist, brecht ihr auf«, entschied Heddo, jedoch mit einem sorgenvollen Blick im Gesicht. »Wir werden das Lager ebenfalls verlegen, sobald ihr euch auf eure Reise begebt. Sorge dich nicht um uns, wir werden sicher sein. Und du wirst zu uns zurückfinden, mein Sohn, wenn die Zeit dafür reif ist. Geh nun und bereite dich vor.«
Doragon verbeugte sich auf den Knien, die Stirn und die Hände auf den Boden gelegt. »Ich werde den Stamm nicht enttäuschen.«
» Oro ni te ro .« Der Häuptling legte eine Faust über sein Herz und verneigte sich leicht. »Dein Wirt wäre stolz, könnte er dich heute sehen.«
Er ist immer stolz gewesen, Doragon hatte es immer gespürt, er war ja auch sein einziges Küken.
» Oro ni te ro «, erwiderte Doragon und legte ebenfalls seine Faust auf seine Brust. »Dein Vertrauen ehrt mich.«
»Ah, meine Kinder!« Der König lächelte aufgesetzt und stand von seinem Stuhl am Kopfende der langen Tafel auf, breitete die Arme aus und kam auf sie zu, als wollte er sie umarmen. »Früchte meiner Lenden! Der Stolz meines Geschlechts.«
Letzteres sagte er so abfällig, dass sie allesamt in einer Reihe vor den Türen stehen blieben, die hinter ihnen von den hinauseilenden Wachen geschlossen wurden.
Vaaks sah sich über die Schulter und hatte ein mulmiges Gefühl im Magen, als sie sich schlossen und die Familie unter sich war.
Ihnen hätte bewusst sein müssen, dass ihr Vater das Chaos auf dem Reitplatz noch ansprechen würde.
»So.« Der König stützte sich mit einem Arm auf eine leere Stuhllehne und sah ihnen nach einander ernst in die Gesichter. »Verratet mir doch bitte, wann auch nur einer von euch gedenkt, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen?«
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