„Dieses bekackte Wattenmeer!“
Zwei Männer der Feuerwehr mussten sich übergeben, als die Leiche vorsichtig auf das Rettungsfloß gelegt wurde. Langsam wurde nun das Floß über den Wattboden in Richtung Deichvorland gezogen. Auf der Wiese vor dem Deich hatten mittlerweile die Kollegen Nauman und Hinrichs eine Absperrung eingerichtet, damit der Hubschrauber hier ungefährdet landen konnte.
Nach dem Einsatz im Wattenmeer und dem Abtransport der Leiche durch den Hubschrauber der Bundespolizei saßen die Beamten des Polizeipostens Wangerooge noch einen Moment zusammen. Sie ließen den Einsatz Revue passieren. Naumann, Petersen und Hinrichs hatten sich umgezogen, weil ihre Uniformen durch den Schlick des Wattenmeeres total verdreckt waren. Rieke Hinrichs hatte die Fotos vom Fundort schon auf die PCs geladen. Nachdenklich blickten alle auf die Monitore.
„Der Mann muss, glaube ich, bei der Arbeit gestorben sein“, spekulierte Naumann, „ein Touri läuft ja nicht im Blaumann hier rum.“
Petersen nickte.
„Wir müssen die Ergebnisse der Obduktion abwarten. Ist da jemand über Bord gegangen von einem Arbeitsschiff?“
„Unwahrscheinlich, dann hätten wir doch eine Suchmeldung bekommen, und die Seenotretter hätten ebenfalls Bescheid gesagt. Und von der Nordsee werden die Leichen kaum ins Wattenmeer gespült. Die werden dann draußen auf irgendeiner Sandbank gefunden, in der Regel an der nordfriesischen Küste“, referierte Onno.
Petersen war aufgestanden.
„Lasst uns nicht weiter spekulieren. Wir müssen die Obduktion abwarten. Vielleicht finden die auch was über die Identität des Mannes. Günter, nimmst du die Aussage der Wattführerin auf, reicht morgen. Ich fahre jetzt noch zur Jugendherberge. Kann die Lehrer ja nicht hierher bestellen, ich sage nur Aufsichtspflicht.“
„Jung, nee, wat bis du bloß für ‘n Sabbelkopp“, amüsierte sich Onno.
Rieke Hinrichs schüttelte nur mit dem Kopf. Sie hatte Onnos plattdeutschen Einwurf nicht verstanden. Vorsichtig fragte sie Petersen:
„Kann ich mit zur Jugendherberge kommen?“
„Kein Problem, aber diesmal nicht auf dem Gepäckträger. Wir haben ja noch ein zweites Fahrrad.“
Im Anbau der Jugendherberge am Westturm saßen die beiden Lehrkräfte der Klasse 7b der Adolf-Reichwein-Oberschule aus Bremen im Aufenthaltsraum zusammen. Die Klasse veranstaltete einen Spieleabend, der gegen alle Befürchtungen relativ ruhig verlief. Die Ereignisse des heutigen Tages wirkten noch nach. Nach Rücksprache mit der Schulleitung und den Elternsprechern der Klasse wurde auf einen Abbruch der Klassenfahrt verzichtet. Die Abreise war sowieso in zwei Tagen geplant, außerdem wussten die beiden Lehrkräfte nicht, wie lange sie der Polizei für Befragungen zur Verfügung stehen mussten. Für heute Abend hatten sich bereits Beamte der örtlichen Polizei angekündigt.
Lena Petersen sah dieser Befragung mit gemischten Gefühlen entgegen. Es würde zum ersten Mal, seit sie mit ihrem Vater gebrochen hatte, zu einer Begegnung kommen. Zwar wusste sie, dass ihr Vater von Bremen nach Wangerooge strafversetzt worden war, aber sie hatte nicht damit gerechnet, ihn auf der Insel zu treffen. Sie war Referendarin im Schuldienst und die Begleitung einer Klassenfahrt gehörte zur Ausbildung. Als Wangerooge als Ziel der Klassenfahrt genannt wurde, hatte sie zuerst überlegt, die Teilnahme abzulehnen. Später hatte sie sich dann aber doch dagegen entschieden. Eine Weigerung wäre bei ihrem Schulleiter und ihren Ausbildern nicht gut angekommen, und unter normalen Gesichtspunkten würde sie nicht unbedingt Kontakt zur örtlichen Polizei bekommen. Also hatte sie schweren Herzens zugestimmt. Dass sie bzw. einer ihrer Schüler eine Leiche im Wattenmeer finden würde, war in der Tat ein tragischer Zufall.
Dabei hatte sie sich mit ihrem Vater während ihrer Kindheit außerordentlich gut verstanden. Er war ein verständnisvoller und liebevoller Vater gewesen. Erst mit seiner Versetzung in die Drogenfahndung hatte sich sein Verhalten geändert. Er trank übermäßig viel Alkohol, stritt sich immer häufiger mit ihrer Mutter, wobei er allerdings nie aggressiv oder bedrohlich wurde. Zusätzlich nahmen seine Musiktermine mit seiner Band zu, so dass er neben seinem Schichtdienst auch in seiner Freizeit viel unterwegs war. Seine mutmaßlichen Verstrickungen in den Drogensumpf, welche dann ja zu einem Disziplinarverfahren und zur Versetzung auf die Insel geführt hatten, waren der Anlass, dass sie mit ihrem Vater gebrochen hatte. Nachträglich musste sie sich eingestehen, dass ihre Mutter den Bruch forciert hatte.
Heute im Wattenmeer hatte sie ihren Vater von weitem gesehen, wie er dort mit seiner hochgekrempelten Uniformhose durchs Wattenmeer stolzierte. Augenscheinlich hatte er sie nicht erkannt. Mit gemischten Gefühlen wartete sie nun auf die polizeiliche Befragung durch ihren Vater.
Petersen und Rieke Hinrichs stellten ihre Fahrräder im Hof der Jugendherberge ab. Während er das E- Bike benutzt hatte, war Rieke ihm mit dem rostigen Normalfahrrad der Dienststelle gefolgt. Auf dem Deich hatten sie Gegenwind gehabt, was seiner Anwärterin aber nichts auszumachen schien. Ohne Probleme hatte sie ihm folgen können, was für ihre körperliche Fitness sprach oder aber für seine Kurzatmigkeit. Als beide den Aufenthaltsraum der Jugendherberge betraten, waren sie von der ruhigen Atmosphäre überrascht. Die Schüler spielten an verschiedenen Tischen Brett- oder Kartenspiele. Petersen wunderte sich, dass das in der heutigen Zeit noch möglich war. Die beiden Lehrkräfte saßen auf einem Sofa an der linken Seite des Raumes. Petersen erstarrte. Sein Magen begann zu grummeln. Dort auf dem Sofa saß seine Tochter, die er schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Rieke Hinrichs blickte ihren Chef sorgenvoll an. Irgendetwas an ihm hatte sich verändert.
„Ist was Chef? Alles klar?“
Petersen sammelte sich und nickte kurz.
„Suchen Sie bitte den Murat und befragen Sie ihn, und denken Sie dran, er ist ein Kind.“
„Ach, das habe ich noch gar nicht bemerkt“, konterte Rieke schnippisch. Ihr Chef schien sie für völlig unterbelichtet zu halten, das ärgerte sie.
Lehrer Bullwinkel erhob sich und reichte Petersen die Hand.
„Mein Name ist Bullwinkel und das ist meine Kollegin Petersen“, stellte er das Lehrerteam vor.
Nur ein knappes „Petersen“ kam über die Lippen des Kommissars. Bullwinkel stutzte.
„Die Namensgleichheit ist ja witzig“, grinste er.
Petersen war nicht zum Scherzen zumute. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft an einer Lösung, um die für ihn peinliche Situation aufzulösen. Aus Lena Petersens Gesicht war jegliche Farbe entwichen. Würde ihr Vater sie verleugnen? Grund dazu hätte er gehabt. Sie hatte sich von ihm losgesagt.
„Die Namensgleichheit ist kein Zufall. Lena ist meine Tochter.“
Bullwinkel spürte sofort, dass hier irgendetwas zwischen Vater und Tochter nicht stimmte.
„Ich gehe mal eben zu Ihrer Kollegin und unterstütze sie bei der Befragung von Murat. Wir haben ja sowieso nichts Polizeirelevantes beizutragen.“
Mit diesen Worten zog er sich dezent zurück. Petersen setzte sich langsam aufs Sofa.
„Ein merkwürdiger Zufall, dass wir uns hier unter diesen Umständen wiedersehen. Du als Zeugin bei einem Leichenfund und ich als Dorfpolizist“, bemerkte er trocken.
In diesem Moment liefen Lena Petersen die Tränen übers Gesicht. Sie umarmte ihren Vater und hielt ihn lange fest. Behutsam streichelte Petersen seine Tochter, die sich nun langsam beruhigte. Die ersten Schüler registrierten die Szene auf dem Sofa.
„Frau Petersen, was ist denn, hat der Mann Ihnen wehgetan?“
Lena Petersen schüttelte mit dem Kopf. Petersen zückte seinen Notizblock, um das Ganze dienstlich aussehen zu lassen.
„Alles okay hier, für eure Lehrerin war das heute alles ein bisschen zu viel“, erklärte er in pädagogischer Manier.
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