„Das ist die ‚Nordsee‘, unser Saugbagger, der bearbeitet die Fahrrinne. Und damit die Dame beruhigt werden kann, das Schiff kann auch zur Ölbekämpfung eingesetzt werden.“
Ironisch fügte er noch an.
„Mann, oh, Mann, eure Probleme möchte ich haben, einmal Polizist auf Wangerooge sein.“
Petersen ersparte es sich, den letzten Spruch zu kommentieren. Freundlich erläuterte er die neu gewonnen Erkenntnisse der besorgten Bürgerin. Sie schien sich mit der Erklärung zufrieden zu geben. Petersen war erleichtert. Im Rausgehen gab sie aber noch einen Hinweis.
„Sie können den Behörden ruhig empfehlen, im Schornstein dieses Schiffes einen Rußfilter einzubauen.“
Die Außentür fiel ins Schloss. Erleichtert ließen sich die Beamten in ihre Bürosessel fallen.
Von Onno kam nur, „wat ist denn nun mit Tee?“
Als alle gegangen waren, überkam Lars Petersen der Blues. Hier saß er nun im Dienstzimmer und ließ den Tag Revue passieren. Kleinkram, die Suche nach dem Dieb des Opferstocks, Inhalt maximal 30 €, dann eine Frau, die ein Schiff anzeigen wollte. Er zweifelte an seiner Entscheidung, auf der Insel zu bleiben. Er verbrachte die Tage in einer öden möblierten Dienstwohnung, keine Beziehung in Sicht. Die Frau, die er begehrte, war zu jung und viel zu weit weg. Der Inselkleinkram begann, ihn zu langweilen. Er hatte für seine letzten Dienstjahre die Ruhe gewollt, aber jetzt ging sie ihm gehörig auf die Nerven. Eigentlich müsste er jetzt zum Magister gehen und sich volllaufen lassen. Allerdings warnte ihn seine innere Stimme. Frust Saufen nahm meistens kein gutes Ende. Er hatte diesbezüglich auf der Insel schon einschlägige Erfahrungen gemacht. Mona anrufen? Keine Option. Ihre Stimme zu hören, würde den Blues verstärken. Also blieb ihm nur der wirkliche Blues. Er raffte sich auf, schloss alle Türen ab und ging in seine Wohnung. Um sicher zu gehen, dass er unbegrenzt den Verstärker aufdrehen konnte, klopfte er bei Rieke, die aber nicht zu Hause zu sein schien. Er schnappte sich seine Gitarre und freute sich, mal wieder ohne Kopfhörer spielen zu können. Diesmal spielte er nicht die gängigen Gitarrenriffs der Rockgeschichte, sondern improvisierte sich seinen eigenen Blues zusammen. Nicht ahnend, dass mittlerweile Rieke nach Hause gekommen war und sich als stille Zuhörerin auf die Treppe gesetzt hatte.
Stefan Bullwinkel stand mit seiner 7. Klasse der Adolf-Reichwein-Oberschule aus Bremen auf dem Deich neben dem Deichschart. Die Schüler hatten sich ins Gras gesetzt und spielten mit ihren Handys. Die junge Referendarin, die er als Begleiterin mitgenommen hatte, machte Fotos vom gegenüberliegenden Westturm. Sie waren 15 Minuten zu früh zum verabredeten Treffpunkt für die Wattwanderung erschienen. Lieber zu früh als zu spät, hatte er sich gedacht, zumal Schüler im Verbund zur Trödelei neigten. Bullwinkel blickte über den Horizont. Das Wattenmeer war trockengefallen, nur in den Prielen befand sich Wasser. Die Sonne schien erbarmungslos und spiegelte sich im Schlick. 30 Grad waren für eine Nordseeinsel ein seltener Wert. Viel hätte er darum gegeben, jetzt ohne die lärmenden Schüler hier zu sein. Die Sommerferien waren gerade beendet und ein Urlaub war für ihn nicht in Sicht. Eine jüngere Frau kämpfte sich mit einem Fahrrad den Deich hinauf. In der rechten Hand hatte sie eine reichlich große Forke. Zweifellos musste sie die Wattführerin sein. Als sie Bullwinkel sah, stoppte sie und stellte sich als Wattführerin vor. Bullwinkel und die Führerin gingen nun voran. Ein gepflasterter Weg führte vom Deich ins Deichvorland zur Wattenmeerkante. Die Referendarin ging am Ende der Gruppe und ermahnte die zurückhängenden Schüler, nicht zu trödeln. Am Ende des Weges war eine platzähnliche Sandfläche. Die Schüler wurden aufgefordert, sich hinzusetzen. Bullwinkel und seine Referendarin blieben stehen, um besser ein Auge auf die Schüler werfen zu können.
Die Wattführerin gab nun einen Überblick über das Konzept Nationalpark Wattenmeer, erläuterte die Funktion der verschiedenen Ruhezonen und ging dann auf die Einzigartigkeit des Wattenmeers als ökologischem System ein. Bei Bullwinkel stieg der Blutdruck. Seine Schüler zeigten nur mäßiges Interesse. Einige spielten versteckt mit ihren Handys. Es kam so, wie er es befürchtet hatte. Mehrfach musste er einzelne Schüler ermahnen und sie auffordern, dem Vortrag zu folgen. Auf dem Elternabend vor der Klassenfahrt hatte er vorgeschlagen, eine handyfreie Klassenfahrt durchzuführen. Er war dort auf den erbitterten Widerstand der Elternschaft gestoßen. Mobiltelefone seien für Notfälle unverzichtbar. Die Erreichbarkeit ihrer Kinder sei unerlässlich. Zerknirscht hatte er sein Vorhaben aufgegeben und sich gefragt, wie seine Kollegen vor der Handyzeit Klassenfahrten bewerkstelligt hatten. Seine Referendarin hatte freundlich angedeutet, dass man die Entwicklung nicht aufhalten könne. Er hatte sich geschlagen gegeben. Gott sei Dank dauerte der Vortrag nicht allzu lang. Die Gruppe ging nun direkt ins Watt. Die meisten Schüler liefen barfuß. Nach anfänglichem „Igitt“ stellte sich eine gewisse Freude am Laufen im Modder ein. Nachdem sie einige hundert Meter ins Watt gelaufen waren, bildeten sie einen Kreis. Die Führerin stach mit ihrer Forke in den Boden und legte einen Wattwurm frei. Ekelgeschrei der Kinder, die sich aber schnell wieder beruhigten. Ungläubig lauschten die Kinder den Erklärungen. Dass ein Wurm Sand frisst und die organischen Stoffe herausfiltert, war für sie kaum nachvollziehbar. Das Interesse war gewachsen, stellte Bullwinkel zufrieden fest. Unerbittlich brannte die Sonne auf die Gruppe. Den Schülern schien die Sonne nichts auszumachen, aber Bullwinkel näherte sich seinem Grenzbereich. Tief schob er sich seine Werder-Kappe ins Gesicht und ärgerte sich darüber, dass er keine Sonnencreme aufgetragen hatte. Die Schüler verteilten sich jetzt etwas und suchten nach bestimmten Muschelarten. Murat hatte sich am weitesten von der Gruppe entfernt. Bullwinkel versuchte, ihn mit winkenden Handbewegungen zur Rückkehr zu bewegen, denn der Junge stand bereits fast am Rande des ersten größeren Priels. Auch die Wattführerin hatte Murat bemerkt und rief laut. Bullwinkels Ärger schwoll an. Erst diese Hitze, die ihm zu schaffen machte, und dann noch der Junge, der sich seinen Anweisungen widersetzte. Wattführerin und Lehrer bewegten sich nun schnellen Schrittes in Richtung Murat. Bullwinkel stutzte. Der Junge krümmte sich und übergab sich. Scheiße, dachte er, jetzt hat der auch noch einen Sonnenstich, hier mitten im Watt. Wenn das so weitergeht, bekomme ich bestimmt auch einen. Murat stand wie angewurzelt im Schlick und starrte auf den Wattboden. Dann übergab er sich erneut und wandte sich den heraneilenden Erwachsenen zu. Bullwinkel wollte gerade zu einer Brüllattacke ansetzen, als er bemerkte, dass Murat unentwegt auf einen Punkt des Wattbodens zeigte. Plötzlich erstarrte Bullwinkel, und auch die Wattführerin wich erschrocken zurück. Aus dem Wattboden am Rande des Priels ragte eine menschliche Hand. Neben der Hand waren Teile eines Gesichts zu sehen. Die Augenhöhlen waren mit Schlick gefüllt, und auch der weit aufgerissene Mund war komplett vollgestopft. Bullwinkels Herz raste. Er kämpfte gegen einen Würgereiz. Jetzt war auch seine Referendarin am Fundort angelangt, umringt von einigen Kindern. Sie hatte nur einen Gedanken: Die Kinder müssen hier weg. Während Bullwinkel versuchte, seinen Würgereiz zu unterdrücken, ergriff die junge Lehrerin die Initiative. Mit schneidender Stimme brüllte sie „Abmarsch!“ Völlig verdattert folgten die Kinder ihr. Bullwinkel, der sich jetzt auch gefangen hatte, schob Murat von der Fundstelle. Er legte seinen Arm um den Jungen.
„Komm, wir hauen auch ab. Kannst du gehen?“
Murat nickte, wischte sich unauffällig ein paar Tränen aus den Augen und ging langsam mit seinem Lehrer zurück. Die Wattführerin musste jetzt ebenfalls gegen ihren Brechreiz ankämpfen. Sie rammte ihre Forke einen Meter vor dem Fundort in den Wattboden, zückte ihr Handy und wählte 110.
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