„Wir haben noch etwas vor, wir beide.“
Naumann grinste. Rieke sah ihren Chef zweifelnd an.
„Wir haben noch jemandem einen Besuch abzustatten.“
Rieke Hinrichs konnte mit diesem Hinweis nichts anfangen, wollte aber auch nicht weiter nachfragen. Nach etwa einer halben Stunde blickte Petersen auf die Zeiger seiner alten analogen Uhr.
„Okay, wir können jetzt los.“
„Wohin los?“
„Abwarten.“
Mit einem verschmitzten Lächeln forderte er Rieke auf, ihm zu folgen. Über die Kapitän-Wittenberg-Straße bogen sie in die Friedrich-August Straße ein. Als Rieke die grünen Jever Sonnenschirme sah, ahnte sie, was jetzt kommen würde. Ein grünes Schild hing über dem Eingang der Kneipe. „Zum Störtebeker“ stand dort geschrieben. Die Leuchtreklame war noch nicht eingeschaltet. Im Fenster neben der Eingangstür sah sie eine Fotografie von einem Bierglas. An dem Bierglas befand sich Grünzeug, sieht irgendwie nach Basilikum oder Minze aus, dachte sie sich. Über dem Bild stand: „Cocktail des Tages.“ Petersen öffnete die Kneipentür. Hinter der Theke war niemand zu sehen.
Petersen brüllte ein lautes „Moin“ in den Raum. „Polizei hier.“
Rieke Hinrichs musterte den Kneipeninnenraum. Überall hingen Fischernetze, Reusen und Fischkisten von der Decke. Links auf der Empore saß der große Mann, der sie gestern auf der Straße angepöbelt hatte, Kurzhaarfrisur, dunkle Brille. Er zog langsam an seiner Zigarette, verzog keine Miene und starrte aus dem Fenster. „Der hat Gag Tourette“, hatte Petersen gestern zu ihr gesagt. Dieser Gedanke ging ihr durch den Kopf, als Petersen und sie auf die Empore kletterten.
„Die Kneipe ist noch zu. Musst du jetzt schon trinken, Sheriff? Dann machst du es nicht mehr lange“, wurde Petersen angeblafft.
„Wir sind dienstlich hier“, antwortete Petersen sehr förmlich. „Es liegt eine Anzeige gegen dich vor.“
Dem Magister entgleisten die Gesichtszüge.
„Die Musik war doch gestern gar nicht laut. Ich glaub‘, ich spinne. Deutschland ist ein Land von Querulanten geworden.“
Jetzt war es vorbei mit seiner Coolness. Etwas zittrig fingerte er eine neue Zigarette aus der Packung.
„Welches Arschloch war das?“
„Darum geht es doch gar nicht. Es liegt uns eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung vor.“
Langsam verstand Rieke, welches Spiel Petersen mit dem Wirt trieb. Krampfhaft versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen.
„Beamtenbeleidigung, du hast ja ein Rad ab. Wen soll ich denn beleidigt haben?“
„Du hast meine junge Kollegin als Pumuckl bezeichnet.“
„Wer will das denn angezeigt haben?“
Petersen kramte aus seiner Uniformjacke ein Anzeigenformular heraus.
„Gäste vom Café Treibsand.“
„Ich glaub mein Schwein pfeift, das war doch ein Spaß. Ich wollte das junge Mädchen doch nicht beleidigen.“
„Vorsicht, dünnes Eis, junges Mädchen geht gar nicht.“ Petersen blieb ernst. Der Magister wandte sich jetzt an Rieke.
„Ich wollte dich nicht beleidigen. Erst einmal willkommen auf Wangerooge. Ich bin der Magister, Nachfahre des einzigen akademischen Seeräubers, Magister Wygbold.“
Petersen rollte mit den Augen.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, aus der Sache glimpflich rauszukommen, ein Bußgeld in Form zweier Getränke.“
Rieke konnte sich nicht mehr halten. Der Magister verlor die Fassung.
„Du Halunke hast mich verarscht. Das sind Mafiamethoden, die Polizei erpresst sich die Zeche. Das kenn‘ ich nur von St. Pauli, wo die Bullen im Puff umsonst vögeln durften. Also gut, was wollt ihr trinken?“
Jetzt nicht, wir sind hier in Uniform. Es wird sich noch eine Gelegenheit ergeben. Die Stimmung war jetzt entspannt.
„Und auf sowas fall‘ ich rein“, murmelte der Magister.
Dann sprach er Rieke an.
„Wo kommst du denn her?“
Brav, wie eine Schülerin, antwortete sie:
„Aus Delmenhorst bei Bremen.“
„Das ist bitter.“
Petersen konnte sich kaum halten vor Lachen. Auch Rieke musste grinsen, obwohl der Gag auf ihre Kosten ging. Danach machten die beiden Polizisten den Abgang. Vor der Kneipe lache Rieke. „Geile Nummer, Chef.“
Es waren zwei Tage vergangen, ohne dass es einen Hinweis auf den verschwundenen Opferstock gab. Der Diebstahl hatte zwar auf der Insel für großes Aufsehen gesorgt und wurde heiß diskutiert, aber ein Ermittlungsfortschritt war nicht erkennbar. Heute frühstückte Petersen in seiner Dienstwohnung. Onno hatte einen Arzttermin, Günter Naumann wegen seiner Nachtbereitschaft den Vormittag frei und Rieke Hinrichs wollte am Strand Joggen gehen. Gestern Abend hatte Mona angerufen, um sich nach der neuen Anwärterin zu erkundigen. Als Petersen wahrheitsgetreu den Begriff „Kampflesbe“ gebrauchte, bekam er von ihr sogleich einen Einlauf.
„Was soll denn dieser Chauvispruch?“
„Das hat sie wirklich als erstes zu mir gesagt“, hatte Petersen beteuert.
„Vielleicht wollte sie gleich einen Riegel vorschieben, damit du sie nicht angräbst.“
„Quatsch, ich grabe keine Anwärterinnen an.“
Lachen in der Leitung.
„Stimmt, ich habe mich dir zu Füßen geworfen.“
Jetzt hatten beide gelacht. Das Verhältnis zu Mona hatte sich verändert. Irgendwie war beiden klar, dass auf die Distanz eine Beziehung nicht funktionieren würde. Hinzu kam der große Altersunterschied. Wenn sie sich trafen, kam es zwar immer zu einem erotischen Knistern, aber Besitzansprüche wurden nicht mehr erhoben.
Petersen blickte sich in seiner Dienstwohnung um. Er hatte Poster und Bilder aufgehängt, aber es war immer noch eine Dienstwohnung mit dem Charme der 60iger Jahre. Eigentlich suchte er, nachdem er sich für ein Bleiben auf der Insel entschieden hatte, nach einer eigenen Wohnung. Hier aber saß er nun, genauso wie andere Inselbewohner, in der Falle. Bezahlbarer Wohnraum war rar. Die finanzstarken Investoren vom Festland hatten die Insel im Würgegriff. Es wurde zwar auf der Insel viel gebaut, aber eben nur Ferienwohnungen, die die Hälfte des Jahres leer standen. In den dunklen Monaten glich die Insel einer Geisterstadt, dunkle Wohnungen ohne Ende. Hausmeisterdienste und Ferienwohnungs-Vermittlungen hatten Hochkonjunktur. Sogar die Menschen, die dort arbeiteten, besaßen selbst keinen bezahlbaren Wohnraum. Auf dem Weg nach unten in die Diensträume begegnete er Rieke Hinrichs, die völlig außer Atem vom Jogging kam.
„Dass der Deich da hinten erhöht wird, das hätten Sie mir ja mal sagen können. Ich wollte so schön vom Strand über den Deich zurücklaufen.“
„Hallo, Sie haben mich ja nicht gefragt. Woher soll ich denn wissen, wo Sie joggen?“
„Ist ja gut, war nicht ganz ernst gemeint. Ich springe schnell unter die Dusche und melde mich dann dienstbereit.“
„Aye, Aye!“
Fast hätte er ‚Sir‘ gesagt. Das Wort war ihm aber im Halse stecken geblieben. Die weibliche Form kannte er nicht. Dann lieber nichts sagen, bevor er böse Blicke kassiert hätte. Nachdem er seinen PC hochgefahren hatte, studierte er das Reviertagebuch. In der vergangenen Nacht war es ruhig geblieben, keine Ruhestörungen, wie sie sonst in den langen Sommernächten üblich waren. Das Telefon läutete, die Nummer verhieß nichts Gutes, Notrufzentrale Oldenburg. Jemand auf der Insel musste die 110 gewählt haben.
„Moin Kollege, nichts Schlimmes, keine Leiche oder ähnliches. Wir haben eben einen anonymen Anruf bekommen. Bei euch ist doch in der Kirche was geklaut worden. Ich spiel dir das mal vor.“
Inzwischen hatte Rieke Hinrichs das Dienstzimmer betreten. Petersen drückte die Mithörtaste.
„Kasten von Kirche liegen bei stables, Container“, stammelte die Stimme.
Der Anrufer sprach augenscheinlich nur gebrochen Deutsch und benutzte dann eine englische Vokabel.
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