Insgeheim hatte er sogar auf diese Lösung gehofft. Und es war von ihr kein rotes Licht gekommen – nicht direkt…
Es war ja nur ein erster Probelauf, ein Ausloten – da schadete es gar nichts, wenn sie etwaige Enttäuschungen, die auftauchen konnten, nicht so hautnah mitbekam. Und wenn alles so war, wie er sich das vorstellte, würde eben die nächste Runde Überzeugungsarbeit fällig werden. Solche Möglichkeiten, wie sie sich ihnen jetzt boten, gab es nur einmal im Leben.
Man musste ihnen aber eine Richtung geben – die Gelegenheit nicht verstreichen lassen.
Und dann würde er sie schon umstimmen. Wenn sie erst einmal auf Probefahrt dahin glitten, unter einer Wolke von Segeln, gurgelnd und rauschend, nur ein ganz klein bisschen Lage schiebend… da würde sie nicht widerstehen. Sie war auch ein Mädchen von der See. Er musste ihr das nur wieder mal vor Augen führen.
„Einverstanden, du. Wir machen das alles so, wie du sagst. Ich fahr da mal hin, ob das überhaupt was ist… Montags ist wieder jemand da, haben sie mir am Telefon gesagt. Und jetzt kein Wort mehr davon. Lisa, kannst du mal den Teller mit den Steaklets ’rüberreichen…? Die müssen jetzt drauf… Und es sind schon Röstkartoffeln fertig! Wer will welche?“
Petersen war froh, dass er aufrecht im brausenden Wind saß und nicht bei dieser Hitze im Auto schmorte – von der Sonne durchs offene Schiebedach gebraten, oder sich durch die Klimaanlage eine Erkältung holend.
Die Staus bei Amersfoort und Utrecht hatte er hinter sich gelassen.
Sonntag, kaum Berufsverkehr – nur einige schwere Lastwagen unterwegs… es schienen immer mehr Ausnahmegenehmigungen erteilt zu werden. Aber die Nachbarn fuhren diszipliniert und ein bisschen weniger schnell. Jedenfalls in ihrem eigenen Land.
Er war seit einigen Jahren dazu übergegangen, bei längeren Fahrten Ohrenstopfen zu verwenden. Die große Scheibe vorn hielt zwar einiges an Fahrtwind ab, zumal er selten schnell fuhr, aber zehn Beaufort waren es doch immer. Und der ständige Krach aus dem lauten Rauschen des Luftstroms am Helm und dem Wummern der Zylinder unter ihm war lästig nach stundenlanger Fahrt. Man merkte es erst, wenn man angekommen war – wenn der Motor schwieg und man den Helm abnahm.
Vielleicht kam daher auch das rasch wieder in vager Ferne verhallende, gelegentlich zweistimmige Pfeifgeräusch, das dann seit einiger Zeit in den Ohren auftauchte – von früheren, unbekümmerten Fahrten. Oder Konzertbesuchen in der Vergangenheit – neben Marshal -Türmen, auf denen Ian Gillans ekstatische Stimme nicht optimal ausgesteuert war.
Anneke war jedenfalls auch immer gern mitgefahren und tat es bis heute, eigentlich.
Lästig war wie immer das häufige Auftanken. Hundertfünfzig Kilometer – dann war Schluss, und die Reserve reichte nicht weit. Er sah auf den Kilometerzähler – es musste jeden Moment so weit sein.
Aha – da stuckerte der Motor schon und lief gleich darauf nur noch auf einem Zylinder. Er sah in den Rückspiegel, ließ gezwungenermaßen den Gasgriff los, worauf sie noch langsamer wurden und griff hastig unter sich, wo er den Hebel des rechten Benzinhahns nach vorn in die Reservestellung schob. Als der Motor wieder rund lief, dasselbe Spiel auf der linken Seite, damit auch diese Tankhälfte leer laufen konnte… jetzt hatte er noch zwanzig Kilometer, bis die Maschine endgültig stehen blieb.
Er warf einen schnellen Blick auf die Straßenkarte unter der Klarsichtfolie auf dem Tankrucksack und versuchte, dort ohne Lesebrille etwas zu entziffern. Sie hatten doch grade diesen kleinen Fluss überquert – wie hieß der noch, Leke – nein, Lek…
Gott sei dank, da kam ja schon ein blaues Schild voraus in Sicht, das eine Tankstelle ankündigte. Meerkerk – das war doch mal ein schöner Name. Sie schienen sich endlich der See zu nähern.
So langsam tat ihm auch das Hinterteil weh vom langen Sitzen.
*
Als er den Tank vorsichtig randvoll gefüllt und bezahlt hatte, stülpte er den Helm wieder lose über, fuhr von den Zapfsäulen weg in den Parkplatzbereich und stellte die Maschine auf der Seitenstütze ab.
Erstmal aus der schweren Jacke raus, die Hitze war drückend. Er legte Helm, Handschuhe und Nierengurt auf den kurz geschorenen Grasstreifen, nestelte den Tankrucksack auf und nahm die Wasserflasche heraus, setzte sie an und trank den lauwarmen Inhalt fast aus.
Hier war wenigstens Halbschatten durch ein paar hohe Pappeln.
Die Außentemperatur konnte sich heute ohne weiteres mit der eines Augusttages an der griechischen Ägäis messen. Nur der in der Luft liegende Geruch war nicht grade Eukalyptushain – anders auch als in Deutschland. Nicht der stechende, schon halbwegs vergorene Jauchegestank der Gülle, sondern ein milderes, sanfteres Aroma – nach frischen Kuhfladen.
Näselndes Brabbeln, dann ein fauchendes Keuchen erklang hinter seinem Rücken.
Ein endlos langes Thunderbird-Cabriolet aus den sechziger Jahren, weiß funkelnd und Verdeck offen, rollte dicht hinter ihm aus und kam schaukelnd wie ein Alsterdampfer zum Stehen. Der Fahrer trat ein weiteres Mal lustvoll aufs Gaspedal und stellte dann den Motor ab.
Die beiden jungen Männer darin befanden sich offensichtlich auf einem Sonntagsausflug.
Sie trugen weiße Leinenanzüge, Fünfziger-Jahre-Sonnen-brillen, helle Borsalinos und rauchten erst einmal in aller Ruhe ihre sonderbar unförmigen Zigaretten auf – vorn auf der roten Ledersitzbank, wobei der Fahrer ein Bein über die Tür heraushängte. Sie schienen sich gestenreich spaßige Geschichten zu erzählen, brachen zuweilen in hektisches Gelächter aus und machten sich mit Blicken und Fingerzeigen auf ihre Mitmenschen aufmerksam, was ihre Heiterkeit weiter zu steigern schien.
Gelassene Stimmung, kein Stress… als sie ausstiegen und cool grinsend, aber interessiert herüberblickten und näher kamen, sah man, dass sie stilecht zweifarbige, schwarz-weiß vernähte Halbschuhe trugen.
Petersen nickte zurück und fuhr fort, in seinem Tankrucksack zu stochern, um die offenbar ganz nach hinten gerutschte Flasche mit dem abgefüllten Motoröl herauszuziehen.
Vierhundert Kilometer – er brauchte die fünf Zentner gar nicht erst auf den Kippständer zu wuchten und kerzengrade hinzustellen, um am Sichtfenster zu sehen, dass der Ölstand auf Minimum war: nach so einer Strecke war einfach ein halber Liter fällig bei dem dreißig Jahre alten Motor. Reiner Erfahrungswert.
Der gelbliche Inhalt der durchsichtigen Plastikflasche, die er herauszog, schien das Interesse, vielleicht auch die Phantasie der beiden jungen Herren weiter anzuregen. Als Petersen sich jetzt hinhockte, mit einem Papiertaschentuch den heißen Einfüllstutzen am Motor aufschraubte und die Hälfte des Flascheninhalts vorsichtig hineingluckern ließ, als tränke er ein verdurstendes Tier, kamen sie heran und sahen neugierig zu. Aber ihr anfängliches Amüsement schien sich langsam in eine Art verhaltene Anerkennung zu verwandeln. Sie nuckelten etwas ratlos an ihren Coladosen, traten ihre Joints aus und machten sich auf das altertümliche 80iger-Jahre-Design und den Pflegezustand der Maschine aufmerksam… schienen zu erwägen, ihn anzusprechen und nach Einzelheiten zu fragen, besannen sich dann aber doch anders. Blieben dicht bei ihm stehen, riskierten einen Blick auf die zerknitterte Straßenkarte in der Klarsichttasche, wo die Fahrtstrecke rot markiert war, sahen zu, wie er seine Jacke wieder anzog, die Flaschen verstaute und zu Helm und Handschuhen griff. Offenbar hatten sie erst einmal nichts Besseres vor – wollten noch hören, wie der Motor ansprang und ihm beim Abfahren zusehen.
Und da konnte er einiges bieten, das wusste er aus langer Erfahrung.
Zwar war der Sound gedämpft, wenn sie einmal lief… aber es gab keinen Kickstarter, und der elektrische Anlasser war etwas schwächlich konstruiert. Ausschließlich in der Lage, die Kolben ein einziges Mal über den oberen Totpunkt zu wuchten. Auch die besten Zweiräder wiesen gelegentlich kleine Konstruktionsfehler auf, mit denen man leben musste…
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