»Aber, Verzeihung, Sie rauchen vielleicht, lieber Fremdling? Wollen Sie eine dieser Zigarren versuchen? Sie sind wirklich nicht schlecht und sehen besonders sehr gut aus. Das Deckblatt besteht aus einem Papierstreifen, der in ein Absud von Nikotin getaucht wurde, das man aus den Stummeln bester Havannazigarren bereitet hat... Sie wissen doch, daß in Frankreich jeden Monat zwei bis drei Millionen solcher Zigarren verkauft werden? Diese hier sind prima Qualität.«
Herr C..., der aus diesen letzten Worten einen leichten Spott über die Fortschritte unserer Industrie heraus zu hören glaubte, hielt es an der Zeit, allmählich zu seiner offiziellen Miene zurückzugreifen.
»Danke«, sagte er. »Aber – wenngleich es nicht geleugnet werden kann, daß sich unsre moderne Industrie mit der Fälschung vieler Produkte beschäftigt, so gibt es, wenn man sich danach umsieht, doch eine Menge von Dingen, die man ganz unverfälscht genießen kann. Ganz abgesehen davon, was machen junge Leute in eurem Alter sich aus den Tafelfreuden? Besonders hier in dieser herrlichen Natur, umgeben von diesen schönen, mehr als hundertjährigen Bäumen! Der köstliche Duft des Waldes – –«
»Was meinen Sie, lieber Fremdling,« antwortete Daphnis, große Augen machend. »Was, wissen Sie das wirklich nicht? Aber diese köstlichen Eichen, diese hohen Lärchenbäume, deren Schatten der Liebe von Königen Zuflucht geboten, haben in einer gewissen strengen Frostnacht des letzten Winters fünf oder sechs Grad Kälte mehr bekommen, wie ihre Wurzeln ertragen konnten. (Die Untersuchungen der Forstinspektoren haben dies zur Genüge erwiesen.) Sie sind daher in Wirklichkeit tot! Sehen Sie nur, sie tragen bereits den offiziellen Kerbschnitt, der sie dazu bestimmt, im nächsten Jahre abgehauen zu werden. Sie werden in den Kaminen der Minister ihr Ende finden. Sie haben sich zum letzten Male mit Laub bedeckt: sie sind dem Tode verfallen. Jedem Kenner genügt es, nur einen Blick auf ihre Rinde zu werfen, um zu erkennen, daß der Saft nicht mehr in die Äste steigt ... So daß, während wir uns scheinbar unter Waldesschatten befinden, wir in Wirklichkeit von vegetabilischen Gespenstern, Baumphantomen umgeben sind ... Die alten Bäume sterben ab ... Sie müssen den jungen Platz machen.«
Herrn C...s Stirn verdüsterte sich; durch die hohen Äste der Bäume draußen rieselte ein kalter, kleiner Regenschauer herab.
»Wirklich,« murmelte er, »ich glaube mich daran zu erinnern. Aber übertreiben wir nichts und prüfen wir nicht allzu genau, wenn wir richtig unterscheiden wollen. Euch bleibt diese üppig wuchernde, sommerliche Natur ...«
»Was?« rief Daphnis, »was, lieber Fremdling, finden Sie einen Sommer natürlich, in dem es so kühl ist, daß meine arme Chloe und ich unsere Nachmittage damit verbringen, vor Kälte zu zittern?«
»Es ist wahr, daß wir heuer keinen allzu warmen Sommer haben«, meinte Herr C... »Nun denn, so hebt euere Blicke himmelwärts, euch bleibt der weite, unberührte Himmel.«
»Ein unberührter, reiner Himmel, in dem den ganzen Tag über Schwärme von Luftballons voll aufgeklärter Herren kreuzen? nein, ein solcher Himmel ist nicht mehr natürlich, lieber Fremdling.«
»Aber – des Nachts, beim Schein des Mondes und der Sterne, beim Gesang der Nachtigall könnt ihr vergessen ...«
»Aber,« murmelte Daphnis, »nachts durchschneiden unzählige, vom Schießplatze ausgehende elektrische Strahlen die Luft und beeinträchtigen sowohl den Glanz der Sterne als auch den schönen, über dem Walde ruhenden Mondschein. Die Nacht ... ist nicht mehr natürlich.«
»Was die Nachtigallen betrifft,« seufzte Chloe, »so hat das fortwährende Pfeifen und der Lärm der Züge von Melun sie verscheucht, hier gibt es keine Nachtigallen mehr, lieber Fremdling.«
»O,« rief Herr C... »Seid ihr nicht allzu empfindlich? Wenn ihr das Natürliche so über alles liebt, warum habt ihr euch dann nicht am Ufer des Meeres niedergelassen? Das Geräusch der am Strande zerschellenden Wogen ... die Sturmtage ...« »Das Meer, lieber Fremdling,« sagte Daphnis, »meinen Sie wirklich, wir wüßten es nicht, daß ein unterseeisches Kabel hindurchgelegt ist. Wie Sie wissen, genügt es, ein paar Tonnen Öl hineinzuschütten, um den höchsten Wellengang in beinahe meilenweitem Umkreis zu beruhigen. Was die Blitze seiner Stürme betrifft, so können uns diese nicht mehr imponieren, seit ich weiß, daß man sie in einer Flasche aus einem Papierdrachen herabsenden kann.
Nein, sehen Sie, das Meer erscheint uns heutzutage durchaus nicht mehr ... so natürlich.«
»Auf jeden Fall,« sagte Herr C..., »bleiben uns die Berge, in denen der Sammlung bedürftige Seelen einen stillen friedlichen Aufenthalt ...«
»Die Berge?« antwortete Daphnis. »Welche Berge meinen Sie? Die Alpen zum Beispiel? Den Mont Cenis? Mit seiner Eisenbahn, die wie eine Ratte daran herauf- und herunterläuft und alles mit Lärm und häßlichem Rauch erfüllt, und die hübschesten, früher mit üppigem Grün bedeckten Plateaus verödet. Expreßzüge und Zahnradbahnen, die unausgesetzt die höchsten Berge unsicher machen, rauben ihnen jede Poesie ... Nein, nein, diese Berge sind wirklich nicht mehr ... natürlich.«
Einen Augenblick schwiegen alle.
Dann ergriff Herr C..., der neugierig war, wie weit die Paradoxen dieser beiden schwärmerischen Verehrer der Natur gehen würden, wieder das Wort: »Dann sagen Sie mir doch, junger Mann, was Sie zu tun beabsichtigen?«
»Aber ... natürlich, wir werden darauf verzichten,« rief Daphnis, »wir werden der allgemeinen Bewegung folgen, leben wie die andern. Werden zum Beispiel uns ganz der Politik widmen, das bringt viel ein.«
Bei diesen Worten vermochte Herr C... kaum das Lachen zu unterdrücken, er sah sich die beiden jungen Leutchen an.
»Ach, wirklich,« sagte er. »Und dürfte ich vielleicht ohne unbescheiden zu sein, mir die Frage erlauben, welcher politischen Partei Sie sich anschließen würden, Herr Daphnis?«
»O,« antwortete Chloe statt seiner ruhig und immer in ihrer sanft dozierenden Art sprechend. »Da Daphnis in sich selbst die Partei der ländlichen Unzufriedenen repräsentiert, habe ich ihm geraten, sich auf gut Glück in dem Wahlkreis dieses Landes als Kandidat zu melden, der geistig am beschränktesten ist. Was gehört denn heute dazu, um die Majorität der Wähler für sich zu gewinnen und das Mandat eines Abgeordneten zu erringen? Vor allen Dingen darf man kein gutes Buch geschrieben haben oder vorhaben, eines zu schreiben; dann darf man kein Talent haben, gleichviel zu welcher Kunst; man muß sich den Anschein zu geben wissen, als verachte man überhaupt alle Schöpfungen der Intelligenz, darf nur in protegierendem Tone mit zerstreutem, gleichgültigen Lächeln von solchen Dingen reden; man muß es verstehen, selbst nach jeder Richtung hin den Eindruck einer gesunden Mittelmäßigkeit zu machen; man muß wohlgemut mit den dreihundert Kollegen täglich die Zeit totzuschlagen wissen, sei es, indem man auf Kommando seine Stimme abgibt, sei es, daß einer den andern davon überzeugt, daß man im Grunde eine Gesellschaft von traurigen Schwätzern ist, die mit sehr wenigen Ausnahmen ebenso parteiisch wie bestechlich sind; – abends kaut man dann an seinem Zahnstocher herum, läßt das Auge gleichgültig über die Menge gleiten und murmelt: Bah! Das wird sich alles machen lassen! Alles wird gemacht. Habe ich nicht recht und sind das nicht Eigenschaften, die die Wähler unbedingt von ihrem Abgeordneten erwarten? Ist man aber erst gewählt, dann bekommt man neuntausend Franken Gehalt, ohne all das, was drum und dran hängt, denn die Regierung zahlt nicht nur mit schönen Worten. Man hat Gelegenheit, seiner lieben kleinen Chloe die Erlaubnis zu verschaffen, ein oder zwei Tabakläden zu eröffnen ... Ich finde, daß all das gar nicht so übel ist, außerdem ist es ein leichter Beruf ... Warum solltest du es nicht versuchen, Daphnis?«
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