»Herein,« riefen gleichzeitig zwei frische jugendliche Stimmen aus dem Innern des Häuschens.
Er drückte die Klinke nieder, die Türe öffnete sich, während ein heller, durch die Bäume gleitender Sonnenstrahl, ihn und das Zimmer der kleinen idyllischen Wohnung freundlich beleuchtete.
Als Herr C... die Schwelle überschritten, sah er sich in Gegenwart eines jungen Mädchens und eines noch ganz jungen Mannes, mit blondem, gelockten Haar, dessen feingeschnittene Züge an eine griechische Medaille erinnerten; in dem Blick seiner hellen Augen lag ein fröhlich spottender Ausdruck, den man bei den Bewohnern der Normandie öfter findet. Das reizend naive Gesicht des jungen Mädchens zeigte ein reines Oval und war von schönen braunen Haarflechten umrahmt. Sie trugen beide Trauerkleider, die von bäuerlichem Stoffe hergestellt und von ziemlich plumper Machart nur durch die Grazie ihrer Person einigermaßen erträglich erschienen. Sie waren beide wirklich reizend, und selbst ihr ein wenig artistisches Aussehen war seltsamerweise nicht unangenehm.
Der Chef des Staates, der eben eine ganze Reihe von Dienstreisen absolviert und dabei nur mit Präfekten, Unterpräfekten und Bürgermeistern verkehrt hatte, fühlte sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, sehr angenehm davon berührt, endlich mal so ganz andre Gesichter vor sich zu sehen.
Daphnis stand an einen ländlichen Tisch gelehnt, während die reizende Chloe auf einem eisernen Bettchen neuesten Systems saß, das mit einer Seegrasmatratze, groben, aber weißen Bettüchern und zwei Kopfkissen ausgestattet war. Drei geflochtene Strohstühle, einige Haushaltungsgeräte, Teller und Tassen, Imitationen nach alten Mustern aus Limoges, sowie zwei aus dem Tische stehende, blitzblanke Gedecke von Neusilber, bildeten die ganze Einrichtung dieses Nomadenheims.
»Fremdling,« sagte Daphnis freundlich, »seien Sie willkommen! Sie bringen uns hellen Sonnenschein! Ich hoffe, Sie werden es nicht verschmähen, ohne Umstände das Frühstück mit uns zu teilen? Wir haben Eier, Milch, Käse, sogar Kaffee. Rasch, Chloe, setze noch ein Gedeck auf.«
Die Mächtigen der Erde lieben es bekanntlich von jeher, inkognito unter einfachen Menschen zu wandeln und ergötzen sich an einfachen, unvorhergesehenen Abenteuern und Erlebnissen. Einem so freundlichen Empfange und dieser herzlichen Einladung vermochte Herr C... sich nicht zu verschließen, er konnte gar nicht anders als für dies eine Mal ausnahmsweise die Rigorosität seines Charakters zu verleugnen und ebenfalls liebenswürdig zu sein.
»Wir scheint,« so dachte er, »daß der Zufall mich hier mit zwei jungen exzentrischen Menschen zusammengeführt hat, die froh sind, für eine Weile aus Paris entschlüpft zu sein, und die hier in genialer Weise ihre Ferien zu verleben gedenken. Vielleicht sind sie amüsanter wie meine gewöhnliche Umgebung. Wir wollen sehen.«
»Meine jungen Freunde,« sagte er lächelnd (und mit der gütig herablassenden Miene eines Königs, der bei armen Hirten eingekehrt ist): »Ich liebe das Natürliche – und ich nehme euere Einladung an.«
Man setzte sich um den Tisch, den Chloe so schnell wie möglich gedeckt hatte, und das Mahl begann sofort.
»Ach, das Natürliche,« meinte Daphnis mit einem tiefen Seufzer, »es ist nur deswegen, daß wir hierher gekommen sind, wir suchen es eifrigen Herzens – aber ach! bisher stets vergebens.«
Herr C... sah die jungen Leute ganz erstaunt an. »Wie meint ihr das, meine jungen Freunde? Das Natürliche umgibt euch doch. Ihr seid hier von der Natur mit ihren reinen Freuden und ihren unverfälschten Genüssen umringt. Seht doch nur diese ausgezeichnete Milch ... die frischen Butterbrote!«
»Ach,« sagte Chloe, »das ist wahr, schöner Fremdling, die Milch läßt sich trinken: denn sie ist, wie ich glaube, mit ganz vortrefflichem Hammelgehirn bereitet.«
»Was die Butterbrote betrifft,« murmelte Daphnis, »so wissen Sie selbst, daß man mit dieser neuen Hefe niemals sicher ist ... aber was die Butter angeht, so gebe ich zu, daß ich sie für leidlich gute Margarine halte. Wenn Sie aber Käse vorziehen sollten, so bitte ich Sie, ein Stückchen von diesem hier versuchen zu wollen, man hat mir fest versichert, daß kaum mehr wie ein Drittel Talg und Kreideteile darin enthalten sind. Es ist eine neue Erfindung.«
Bei diesen Worten prüfte Herr C... seine jungen Gastfreunde aufmerksam.
»Und ... ihr ... ihr heißt ... Daphnis und Chloe?«
»O, das find nur unsere Beinamen,« antwortete Daphnis. »Unsere Familien, die früher recht wohlhabend waren, wohnten in Paris in den Champs-Elysees; sie hatten aber das Unglück, ihr Geld zu verlieren, und wurden dadurch gezwungen, ihre Zuflucht zur Arbeit zu nehmen. Ich hatte Jura studiert und hoffte mit der Zeit als Advokat mein Brot zu verdienen. Chloe, die auch Studentin war, und sogar schon das Doktorexamen bestanden hatte, entschloß sich, Hebamme zu werden, als uns ganz unverhofft eine kleine Erbschaft zufiel, die es uns gestattete, uns gleich zu vereinigen, ohne erst auf Kundschaft zu warten. Wir haben uns dann in diesen alten Wald zurückgezogen, um ganz nach unserem Geschmacke zu leben, das heißt, eine einfache, natürliche Lebensweise zu führen, wie der griechische Schriftsteller Longus sie so schön schildert ... Wir finden aber doch, daß das heutzutage sehr schwer ist ... Was, Sie essen schon nicht mehr, lieber Fremdling? Wollen Sie vielleicht zwei Spiegeleier haben? Die sind grade in dieser Zeit sehr beliebt, Sie wissen doch, daß von Amerika aus alle Tage mehr als drei Millionen künstlicher Eier importiert werden? Sie werden in schwefelsaures Wasser getaucht, wodurch die Schale entsteht. Sie sind im Augenblick fertig. Nachher wollen wir Kaffee trinken. Er ist ausgezeichnet ... Er besteht hauptsächlich aus verfälschter Zichorie erster Qualität, wie solche in Paris nach einer offiziellen Schätzung alle Tage für achtzehn Millionen Franken verkauft wird. Weisen Sie ihn nicht zurück. Wir geben ihn gern und ohne Umstände.«
Herr C..., dessen Neugierde erregt war, versuchte in geschickter Weise der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, um dadurch, ohne unhöflich zu erscheinen, das Anerbieten seiner Gastfreunde unberücksichtigt zu lassen.
»Eine kleine Erbschaft, sagen Sie?« frug er mit dem Ausdruck herzlichster Teilnahme, »wirklich, ich sehe, daß Sie Trauerkleider tragen, meine lieben Kinder.«
»Ja, wir tragen sie in Erinnerung an unsern guten Onkel Polemon,« seufzte Chloe, ein trockenes Tränchen abwischend. »Polemon,« sagte Herr C..., in seinem Gedächtnis suchend, »der Name ist mir doch bekannt? ach ja, hieß nicht zur Zeit der Legenden der tapfere Rotweintrinker, der es mit Silen hätte aufnehmen können, so?«
»Derselbe,« seufzte Daphnis, »er war wirklich ein würdiger Apostel des Bacchus. Er liebte ungefälschten, natürlichen Wein, und da hat er sich ein Fäßchen des berühmten ›Weins der Weinbergsbesitzer‹ kommen lassen und Sie wissen?«
»Ja, schöner Fremdling,« fuhr Chloe mit ihrer musikalisch und etwas dozierend klingenden Stimme fort, »ein Fäßchen von dieser verpantschten, verfälschten Mischung, die so reichlich mit Arsenik durchtränkt ist, daß bereits vier- oder fünfhundert Leute daran zugrunde gegangen sind ... Es ist dieser großartige Wein, den unsre Arbeiter und kleinen Leute in Frankreich trinken, während sie dabei frohen Herzens das berühmte Liedchen singen:
»In Frankreich nur, in England nicht.
Gibt's solchen Labetrank!
Und dafür sag dem Himmel ich
Aufrichtig Lob und Dank.«
»So geschah es,« nahm Daphnis die Rede wieder auf, »daß an demselben Abend, wo er seinen Wein auf Flaschen gezogen und ihm sehr reichlich zugesprochen hatte, der Allerhöchste unsern Onkel Polemon zu sich rief. Der unglückliche Greis hat vorher noch sehr gelitten, da er das Opfer qualvoller Koliken geworden ist... Er hat uns dann etwas Geld hinterlassen.«
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