Wer dieses Urteil abgegeben, verschwieg er.
Kößling saß still und sann. Er fragte sich, ob er denn auch mal so gewesen sei, und er dachte an die Nächte voll Entzückungen, da er bei dem von seinem schwer verdienten Stundengeld gekauften Talglicht – er lehrte alles, Musik, Latein, Turnen, Mathematik für anderthalb Silbergroschen die Stunde – da er das erstemal den Wilhelm Meister und den Heinrich von Ofterdingen gelesen – er dachte an die Tage wie im Traum, als er das »Buch der Lieder« in die Hand bekommen und mit ihm oben auf dem Windmühlenberg gesessen hatte und die ganze bekannte Welt, die Bäume +... die roten Dächer unter ihm+... die blauen Bergzüge in der Ferne, alles ihn mit neuen, verzauberten Augen angeblickt hatte+... War das nun eine andere Rasse oder nur eine andere Generation? –
Aber da geschah etwas Unerwartetes, was alle in Staunen setzte; Hannchen, Minchen, Rikchen und Onkel Eli, – ja, es ließ das Fräulein mit den Pudellöckchen so zusammenfahren, daß Wolfgangs Kopf ihr vom Schoß glitt und der Junge, der glaubte, er müsse zur Schule, greinend erwachte. Nur Jenny schlief dabei, an die rundliche Schulter Tante Hannchens gelehnt, ruhig weiter.
»Höre mal, Max, ich glaube nicht, daß das den Herrn Doktor interessiert«, hatte plötzlich Jettchen gesagt – sagte es nicht, – hatte es gesagt, in einem Ton, der nicht mißzuverstehen war und in dem eine lang verhaltene Erregung zitterte. »Du machst dich nämlich damit lächerlich.«
Darauf war es still im Kreis wie vor einem Gewitter.
Max erwiderte nichts Vernehmbares und murmelte nur etwas wie »Idioten« und »Familienrücksichten«.
Aber Hannchen ergriff für ihren Sohn ausgiebiger das Wort. »Ich glaube, daß die Unterhaltung von Max den Herrn Doktor wenigstens ebenso interessiert wie die von dir, Jettchen!« Dumme Person, setzte sie innerlich hinzu.
Und nun geschah das zweite Unerhörte in dieser Nacht.
»Hierin muß ich Ihnen, Madame, als der einzige, der darüber Auskunft zu geben vermag, so leid es mir tut, unrecht geben«, sagte Kößling lächelnd, sehr verbindlich, aber sehr bestimmt und suchte Jettchens Blick.
Man war sich darüber einig, daß er ein sehr unerzogener Mensch wäre, der nicht mehr eingeladen werden dürfte, und man beschloß, Jason Vorwürfe zu machen, wie er ihn nur hätte herbringen können.
Es herrschte Frieden vorerst. Aber der Frieden war peinlich, und der Saal war von Aufbruchsstimmung erfüllt.
»Herr Doktor, kann ich Ihnen noch 'ne Zigarro geben?« sagte Eli und zog ein Ledertäschchen.
»Aber Eli, du wirst doch nicht hier in der guten Stube rauchen wollen?«
»Nu, meinste vielleicht, Minchen, ich werd' dazu extra auf 'n Neuen Markt gehen? – Nehmen Se nur, Herr Doktor, hier die kleine is gut, – wissen Se, mit de Zigarros ist das nämlich solche Sache. Entweder haben se zuviel Fett, dann beißen sie – oder de Einlage kommt mit 'm Deckblatt nich mit, – denn kohlen se und Strünken se. Ich fer meine Person rauche lieber Pfeife! Früher hab' ich auch viel geschnupft. – Nehmen Se ruhig+... hier, ich trag' auch immer ein Fixfeuerzeug mit mir in de Tasche. Sie können se ja nachher auf de Straße weiterrauchen. Wenn der Herr Viertelskommissarius kommt, sagen Sie nur, Sie hätten die Zigarre von mir, – er kennt mich.«
Drüben am Whisttisch rappelte und rührte es sich jetzt
»Es ist Zeit«, sagte Jason und streckte sich. »Ich kann kaum noch sitzen.«
Der Schwede verbeugte sich zu den drei Brüdern und sagte: »Takke!« Er hatte Grund dazu, denn er ging um ein paar Taler reicher fort, als er gekommen. Aber das machte nichts, denn das holte Salomon an seinem Auftrag zehnfach wieder heraus.
»Höre mal, Schwägerin«, rief Ferdinand laut herüber, »du mußt doch mal hier den Fußboden aufreißen lassen, – ich bin der festen Überzeugung, hier – siehste hier, – muß ein Schuster begraben liegen. So viel Pech kann sonst gar nich auf einem Fleck beieinander sein!«
»So, so«, sagte Rikchen, die diesen Witz heute gerade zum fünfzigsten Male von Ferdinand hörte. »Ich werde morgen den Zimmermann Dörstling kommen lassen.«
»Wie wär's, Salomon, kannst du mir vielleicht eine Laterne geben? Es steht heute Mondschein im Kalender«, rief Jason lustig, »oder kannst du sie nicht entbehren?«
»Es ist wohl besser, Jason, wenn du dir zu deinen Wegen nicht noch eigens leuchtest«, gab Salomon zurück.
»Na, woran liegt's noch?« fragte Eli, der mit einmal ungeduldig war, wegzukommen.
»Darf ich mir noch einen Mürbekuchen mit auf den Weg nehmen?« tuschelte Jenny heimlich, während sie sich schmeichelnd an Jettchen drängte.
Wolfgang war ganz verschlafen und torkelte nur so zur Tür.
Max verließ das Zimmer mit dem Stolz eines entthronten Königs.
»Ich habe mich sogar sehr mit Ihnen gefreut«, sagte Onkel Eli leutselig.
Kößling lächelte.
»› Sogar ‹, Onkel, ist köstlich!«
»Nu, is es vielleicht nich wahr, Jason?«
Auch Minchen sprach auf Kößling ein.
»Vielleicht machen Se uns einmal das Vergnügen. Wir sind zwar einfache alte Leute und so fein, wie's bei meinem Neffen Salomon is, is 's bei uns nich, – aber kommen Sie nur. Sie brauchen nur nach Herrn Gebert zu fragen – das sagt Ihnen auf 'n Hohen Steinweg jedes Kind.«
Hannchen ging an Kößling, Minchen und Jason vorüber, – kühl und steif mit dem Kopfe nickend, – ganz Förmlichkeit – ohne eine Miene zu verziehen. Zwar kümmerte sie sich nicht viel um ihre Kinder; aber sie schlecht machen lassen von anderen Leuten, das duldete sie nicht.
»Was hat denn diese Pute?« fragte Jason erstaunt.
Kößling wollte antworten, aber da trat Salomon auf sie zu und schüttelte Kößling die Hand.
»Lassen Sie sich nur recht bald wieder sehen, Herr Doktor, – und ich muß Ihnen doch vielmals für den musikalischen Genuß danken. Früher ist ja hier bei uns im Haus viel musiziert worden. Bei meinem seligen Vater war im Winter jeden Donnerstag Quartettabend, und da haben sogar die Musiker von der Oper mitgespielt. Aber ich weiß nicht, wie das kommt – bei uns ist jetzt nichts mehr los!«
Er wußte schon, woher das kam, aber er fand keinen Grund, warum er darüber mit Kößling sprechen sollte.
Auf dem Korridor war Gedränge. Jeder suchte nach seinen Sachen. Tante Hannchen konnte ihr Kantentuch nicht finden und behauptete so lange, es müsse ihr gestohlen sein, bis ihr jemand sagte, daß es doch da groß und breit am Riegel hinge. Dann meinte sie, daß es eine Minute vorher dort noch nicht gehangen hätte. Darauf sagte Ferdinand, der ohne Vorkenntnisse den Sinn dieses Manövers nicht verstehen konnte, wenn sie den Sommer nach Schöneberg ginge, möchte sie nicht versäumen, dort die Anstalt mit dem französischen Namen aufzusuchen, die ihrem etwas verwirrten Geisteszustand vielleicht Heilung bringen könnte.
Tante Minchen lieh sich doch noch für alle Fälle auf Betreiben Onkel Elis von Jettchen ein Umschlagetuch. Aber sie band es nicht um.
Das Mädchen kam mit der Laterne, um die Treppe hinabzuleuchten. Es war das hübsche Ding mit den bloßen Armen.
Salomon und Rikchen standen bei der Tür, schüttelten jedem die Hand und sagten, daß nicht er, sondern sie zu danken hätten.
Jettchen war auf den Vorflur herausgetreten.
Kößling ergriff ihre Hand.
»Hoffentlich sehen wir uns nun bald, und es liegt nicht wieder eine Pause von dreißigtausend Jahren zwischen heute und unserem nächsten Zusammensein. Denn irgendwie und irgendwann müssen wir uns schon einmal getroffen haben. Aber die näheren Umstände, glaube ich, haben wir beide vergessen!«
»O nein, ich erinnere mich«, sagte Jettchen lachend, »aber ich darf es nicht ausplaudern! Also auf Wiedersehen! – Hoffentlich recht bald!«
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