»Nun, Mademoiselle Jettchen, darf ich fragen, wie Sie die Stunden bis jetzt verbracht haben?«
»Ich war fleißig und habe auch ein bißchen gelesen.«
»Was? Wenn ich fragen darf.«
»Jean Paul, ›Aus dem Immergrün unserer Gefühle‹. Kennen Sie es?«
»Gewiß, ich kenne meinen Jean Paul schon.«
»Lieben Sie ihn?«
»Gewiß, er ist einer der Feinsten von allen. Altmodisch, umständlich, unmodern, aber welch ein Geist! Er klebt mehr am Boden als die anderen, und doch ragt er dabei höher in die Wolken.«
»Und Wilhelm Meister?« warf Jason ein.
»Nein, ich ziehe mir Jean Paul vor. Hier, das, was da ganz tief in uns drin sitzt, hat mehr davon. Jean Paul ist auch etwas für die, die verneinen, Goethe nur für die, die bejahen.«
Jettchen sah ihn erstaunt an. »Verneinen Sie?«
Kößling lachte. »Das ist nicht im Augenblick zu beantworten. Voll verneinen tut wohl niemand. Dadurch, daß wir anwesend sind, – bewußt anwesend an dieser zweifelhaften Stelle, bejahen wir schon. Aber wenn ich voll bejahen würde, dann gehörte ich eben nicht zum Federvieh, – dann würde ich Matrose sein oder Gärtner oder Seidenwarenhändler.«
Das letzte Wort war ihm so entfahren.
Jettchen wurde rot, und Kößling wollte sich entschuldigen, fand aber nicht das Rechte.
Da kam Tante Rikchen und bat, man möchte Platz nehmen.
Onkel Eli fuhr bei der plötzlichen Bewegung, die in die Gäste kam, von seinem Schlummerplatz auf, daß ihm beinahe die Perücke vom Kopf fiel, die er sich schnell mit einer kurzen Handbewegung wieder zurechtrückte.
»Kößling soll Jettchen führen«, sagte Tante Rikchen. – Und so setzten sie sich alle um den langen Tisch; Jason, Jettchen, Kößling kamen nebeneinander, geradeüber von Rikchen und Salomon, Ferdinand neben den Schweden, und das Fräulein mit den Pudellöckchen zu den Kindern, mit denen sie einen Schlachtplan schmiedete: sie würde sich recht viel Kompott nehmen und den Kindern davon heimlich etwas zuschieben, das würde keiner sehen.
Ferdinand mußte raten, was der Hecht gekostet hätte. Er war darin Kenner und riet selten zwei und einen halben Groschen zu hoch oder zu tief. Er traf den Nagel auf den Kopf. Zum Lohn dafür legte er sich auch sehr, ja allzu wacker vor, daß Tante Rikchen bis in die Haarwurzeln erbleichte, weil sie fürchtete, es möchte nicht langen.
»Sst! Ferdinand!« rief Jason über den Tisch, »du weißt, du kannst es nicht vertragen!«
Ferdinand quälte sich immer ein bißchen mit Leber und Galle herum.
»Nachher stehst du wieder am Brandenburger Tor an die Säule gelehnt, wie Licinius, und dann singe ich: ›Hier an Vestas Tempel treff' ich, Licinius, dich, früh eh' der Morgen graut!‹ Und du antwortest mir dann: ›Wirst du loslassen? – Nein, ich will nicht!‹« Das letzte sang Jason zum Gaudium des Kindertisches in dem Ton einer Arie aus dem Don Juan. »Und morgen, morgen liegst du dann wieder da, wie die Plötze auf der Aufschwemme!«
Ferdinand fühlte sich unter dieser Anzapfung nicht wohl. Aber augenblicklich hatte er zu viel damit zu tun, die Gräten zu vermeiden, um sich auf Rede und Gegenrede irgendwie einlassen zu können.
»Höre mal, Jason, hast du etwas über das Befinden unseres Königs gehört? Du bist doch sonst der wandernde ›Beobachter an der Spree‹!« unterbrach Salomon die Gesangssoli seines Bruders.
»Ich weiß nichts Neues.«
»Es soll ihm aber nicht gut gehen.«
»Na, er ist doch nu alt genug. Mal werden wir eben alle mit 'nem offenen Mund daliegen«, versetzte Jason gleichgültig.
»Ich halte das nicht für heilsam für uns«, orakelte Ferdinand und fischte nach einer Gräte.
»Warum?« fragte Jason.
»Na, wer weiß, was wir dann für einen kriegen!«
»Ich glaube, daß der Kronprinz noch unsere einzige Hoffnung ist«, warf bescheiden, aber bestimmt Kößling ein. »Er weiß, was die Zeit will und was ihr fehlt.«
»Jawohl«, sagte Ferdinand spöttisch und machte hierzu die Handbewegung des Glashebens.
»Aber was willst du denn, Ferdinand?« rief Jason lustig, »wenn du den Weinkeller hättest, torkeltest du schon des Morgens beim Zähneputzen!«
Man lachte. Das brachte Stimmung in die Gesellschaft.
Tante Rikchen aber war empört und sagte, sie wolle so etwas gar nicht hören, – das wäre ja demokratisch.
»Na, Schwägerin«, rief Jason, »du glaubst wohl, auch noch, daß die Monarchie die normale, von Gott gewollte Form des Staates ist?«
Die Kinder kicherten und quiekten am Tafelende und bedrängten das Fräulein mit den Pudellöckchen, daß es beinahe vom Stuhl fiel. Sie riefen Johann laut und vertraut zu, der Lohnkutscher bei Ferdinand war und hier heute mit bediente. Er hatte eine grüne Livree an, roch nach Stall und balancierte in den weißbehandschuhten Pranken eine Riesenschüssel so geschickt, daß er mit beiden dicken Daumen in die Soße stippte.
»Einen Witz habe ich heute gehört –«, begann Salomon, »großartig! Mein Lebtag werde ich ihn nicht vergessen!«
Alles schwieg und lauschte.
Onkel Salomon aber war auch ganz still geworden.
»Na?« sagte Jason erwartungsvoll, denn er war stets williger Abnehmer dieser Ware.
Salomon knabberte an der Unterlippe: »Herrgott noch mal, Rikchen, wie war es doch gleich?«
»Aber Salomon, den kannste doch hier gar nicht erzählen«, entgegnete Rikchen.
»Ach, Schäfchen, den meine ich ja gar nicht, ich meine doch den anderen.«
»Aber den haste doch gar nicht erzählt, Salomon!«
Hier quiekte Jenny ungebührlich, und Vater Ferdinand fuhr auf, um Beweise seiner väterlichen Macht zu geben.
Jenny sollte nicht weiter bei Tisch essen, wenn sie sich nicht danach betragen könnte. Johann sollte sie entfernen. – Aber dagegen erhoben die anderen Einspruch, und Jenny blieb, vergnügt kichernd unter den strafenden Blicken ihrer Eltern.
»Aber der Prinz Wilhelm soll recht krank sein«, nahm nach einer Pause Ferdinand das Gespräch von vorhin auf.
»Ich glaube, um Gans wäre es mehr schade, der wird wohl dran glauben müssen. Prinzen haben wir eigentlich nachgerade genug.«
Darauf bemerkte Rikchen, daß sie solche Reden in ihrem Hause nicht dulden könnte. Aber Salomon meinte, daß Jason ganz recht hätte. Gans wäre auch ein besonderer Mensch – trotzdem er sich hätte taufen lassen. Und Ferdinand erzählte, wie die Mutter zu Gans gesagt hätte, kurz nachdem er übergetreten wäre: Eli, wackel nicht immer so mit 'n Stuhl, du megst hinfallen, und du weißt, dein ›Kreuz‹ is noch schwach.
Kößling kannte den Witz nicht und lachte sehr. Er fühlte sich jetzt behaglich. Er saß so dicht neben Jettchen, die mütterlich auf sein leibliches Wohl bedacht war. Auch sprachen sie heimlich und leise zusammen. Jason, Jettchen und Kößling. Sie schienen einen geheimen Dreibund hier gebildet zu haben, und wenn einer den anderen ansah, so sagte eigentlich schon der Blick: wir verstehen uns. Und Kößling sah Jettchen viel an. Offen und frei – und heimlich, verstohlen und unbemerkt, wie er meinte, von der Seite.
»Du willst nach Karlsbad, Salomon?« fragte Ferdinand.
»Ja, vielleicht schon nächste Woche. Der Geheimrat sagt, es wäre nötig. Ich will bloß erst noch für Rikchen 'ne Wohnung in Charlottenburg mieten.«
»Höre mal, ich hätte da einen sehr guten Landauer für dich – er muß nur noch einmal überlackiert werden. Ich lasse ihn dir für die Zeit für fünfundzwanzig Taler, – unter Brüdern kostet er sonst fünfzig.«
»Damit erkennst du also Salomon nur als deinen Halbbruder an«, mischte sich Jason in den Handel.
»Weißt du, Ferdinand, ich wollte gerade mal 'n Stück mit der Eisenbahn fahren.«
»Ich begreife dich nicht«, rief Ferdinand, »wenn Jason das täte, der doch nach niemand zu fragen hat, – aber du als verheirateter Mann... Bisher bist du doch ganz gut so gereist, – und da willst du dich mit einmal auf deine alten Tage auf solche Sachen einlassen?«
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