»Du meine Güte!«, rief Pais angewidert.
»Nur ruhig. Das sind bloß Knochen«, sagte Antilius gefasst, obwohl auch er etwas Vergleichbares noch nie gesehen hatte.
»Igitt! Stell dir mal vor, wie das Ding lebend ausgesehen haben muss«, sagte Pais und verzerrte das Gesicht so, dass es fast komisch aussah. Er entdeckte eine große Fackel, die an der Wand in einem Halfter steckte. Es gelang ihm, sie wieder mit seinen Zündhölzern (genau wie das Schießpulver selten und teuer) zu entzünden, und schon wirkte der Raum ein wenig freundlicher.
»Und jetzt?«, fragte Gilbert.
»Jetzt werde ich das Bild in den Sand zeichnen, so wie es mir der Sandling erklärt hat. Wenn ich alles richtig mache, dann werde ich das Rätsel gestellt bekommen.«
Antilius betrachtete nachdenklich den Sandkasten. Das Skelett der Monsterratte verdeckte einen Großteil der Fläche.
»Wir müssen wohl zuerst die Knochen beiseiteschaffen. Hilf mir, Pais!«
Doch der druckste nur herum und tat keinen Schritt näher an die sterblichen Überreste heran.
»Was ist los mit dir?«, fragte Antilius, als er schon den ersten Unterschenkelknochen aufgelesen hatte.
»Ich kann das Ding nicht anfassen.«
»Was?«
»Mach, was du willst. Aber ich werde es nicht anfassen. Es ist einfach zu widerlich.«
»Du hast Angst vor ein paar alten Knochen? Was immer es war, es war schon sehr lange tot. Oder hast du Angst, die Knochen könnten aufspringen und dich schnappen?«
»Lach’ mich aus, wenn du willst, aber ich werde dieses Ding nicht berühren«, sagte Pais und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Ich lache dich nicht aus.«
»Ich schon«, giftete Gilbert.
»Untersteh dich!«
Um einen erneuten Streit zu vermeiden, warf Antilius Pais den großen Knochen, den er aufgehoben hatte, zu. Dieser fing ihn reflexartig auf und beäugte dann seinen Fang ungläubig.
»Hmm. Auf den zweiten Blick sieht es gar nicht mehr so schlimm aus«, murmelte er.
Die Gebeine der Riesen-Ratte konnten nun endlich zur Seite geräumt werden. Einige waren leicht, andere so überraschend schwer, dass beide anpacken mussten. Zum Schluss bemühte sich Antilius noch, die Sandoberfläche an den Stellen, an denen der Sand durch das Gerippe eingedrückt worden war, zu glätten.
Ein wenig wehmütig schaute er auf den feinen Sand. Er sah genauso aus wie der des Sandlings, nur kälter.
Keinen Satz, kein Wort hatte er vergessen. Der Sandling hatte betont, dass er die Geschichte, die das Bild darstellte, auch erzählen müsse. Das Tor zum Dunklen Tunnel würde zuhören.
Also begann er. Er nahm einen Rippenknochen des Skeletts und benutze ihn als Zeicheninstrument.
Er pinselte zuerst eine wellenförmige Linie in den Sand.
»In einer unendlichen Wüste«, sagte Antilius.
Auf die Welle kam ein kleiner Kreis hinzu.
»Der einsame Mann durchquerte die Wüste in der Nacht, am Ende seiner Kräfte.«
Jetzt zwei Kreise je ober- und unterhalb der Wellenlinie.
»Im Norden würde das Leben auf den einsamen Mann warten. Im Süden der Tod. Der Mann suchte das Leben, doch kannte er den richtigen Weg nicht.«
Über der Kreis-Figur, die den Mann symbolisierte, zeichnete Antilius links und rechts jeweils einen weiteren Kreis. Die Kreise wurden dann jeweils durch eine gerade Linie mit der Kreis-Figur verbunden.
»Zwei Sterne erschienen am Himmel.«
Bis hierhin hatte der Sandling ihm die Geschichte erzählt und das zugehörige Bild beschrieben.
Antilius blickte gespannt zum Tor, in der Hoffnung, dass es sich öffnen wurde (wusste er doch, dass es sich um ein Rätsel handelte und sie noch verschlossen bleiben würde), doch stattdessen geschah etwas ganz anderes. Immer noch über die Sandfläche gebeugt, hörte er ein leises Rascheln unter sich, als er in voller Erwartung zur Tür aufschaute. Er stand auf, wich ein paar Schritte zurück und drehte den Kopf wieder zurück zur Sandfläche. Er sah, wie der Sand in Bewegung geriet, als ob er lebendig werden würde. Antilius musste sofort an den Sandling denken. Er dachte, dass hier einer seiner Artgenossen gerade wieder zu Leben erwachte. Aber dem war nicht so. Der Sand verlor immer mehr an Körnung, bis er schließlich wie ein homogener Brei ausschaute. Es folgte ein Blitz, der die gesamte Oberfläche bedeckte, und dann war der Sand verschwunden. Und zurück blieb Wasser. Nur klares, sauberes Wasser.
Pais und Antilius wechselten verwirrte Blicke.
Als wäre dies noch nicht genug an Überraschung, sah Antilius irgendeine Bewegung in dem Wasser. Und er glaubte, ein Murmeln aus dem Nass zu hören. Er schaute lange auf die glatte Oberfläche.
»… also muss die Geschichte bis zum Ende erzählt werden«, hat der Sandling gesagt.
Antilius wusste plötzlich instinktiv, was er zu tun hatte. Er kniete sich am Rand des Beckens nieder. Dann holte er tief Luft und tauchte mit dem Kopf unter Wasser.
Pais wollte ihn zurückhalten, doch noch während Antilius mit dem Gesicht die Wasseroberfläche berührte, bedeutete er ihm mit der flachen Hand, dass er warten solle.
Das Rätsel und der Dunkle Tunnel
Unter Wasser öffnete Antilius die Augen. Das Wasser war dunkel, sodass er kaum etwas sehen konnte.
»DU HAST DIE GESCHICHTE BEGONNEN, ALSO WIRST DU SIE ZU ENDE BRINGEN, FREMDER«, sprach eine Stimme durch das Wasser zu ihm. Er zuckte zusammen.
»DIE BEIDEN STERNE AM HIMMEL SAGTEN DEM EINSAMEN MANN, ER DÜRFE NUR EINEM DER BEIDEN STERNE EINE FRAGE STELLEN, UM DEN RICHTIGEN WEG IN ERFAHRUNG ZU BRINGEN. DEN WEG, DER INS LEBEN FÜHRT.
EINER DER BEIDEN STERNE WÜRDE DIE WAHRHEIT SAGEN. DER ANDERE ABER, WÜRDE LÜGEN. DER EINSAME MANN WEISS NICHT, WER LÜGT UND WER DIE WAHRHEIT SAGT. WELCHE FRAGE MUSS DER EINSAME MANN WELCHEM STERN STELLEN, UM DEN WEG INS LEBEN ZU FINDEN?«, fragte die Stimme herrisch.
Antilius - zunächst völlig überrascht - hatte der Stimme konzentriert zugehört. Vor seinem geistigen Auge erschien der einsame Mann, wie er an der Wegkreuzung stand und zu den beiden Sternen aufsah. Nur eine Frage durfte er stellen.
Er überlegte kurz, dann merkte er, wie seine Lunge nach Atem zu rufen begann. Er wollte den Kopf aus dem Wasser ziehen, um dann in Ruhe nachdenken zu können. Doch als er es versuchte, hielt ihn irgendetwas im Wasser fest. Antilius ruckte mit dem ganzen Körper, doch es wollte seinen Kopf nicht freigeben. Das Wasser - es war lebendig. Sofort geriet er in Panik. Pais, der schon die ganze Zeit ein mulmiges Gefühl hatte, durchschaute schnell, dass Antilius Hilfe brauchte. Er umklammerte Antilius’ Schultern und versuchte ihn zurückzuziehen. Doch es war sinnlos. Antilius, der kniend mit aufgestützten Händen weiter vergeblich sich hochzustemmen versuchte, begriff trotz seiner Panikattacke, dass sein Kopf nur lebend das Wasser verlassen würde, wenn er die richtige Frage stellte. Wenn er das Rätsel löste.
Der Drang, atmen zu müssen, wurde immer schlimmer. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Aber nicht mehr lange, wenn er die Lösung dieses Rätsels nicht binnen Sekunden herausfinden würde.
Antilius presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und konzentrierte sich auf die Lösung.
Es war unglaublich, aber es gelang ihm, sich auf das Rätsel zu konzentrieren. Sekunden wurden für ihn zu Minuten. In weiter Ferne hörte er Pais schreien und auch Gilbert konnte er hören. Sie schrien verzweifelt seinen Namen. Doch er war in sich gekehrt. Seine Muskeln entspannten sich. Und dann. Ganz plötzlich, kurz bevor er den Atemreflex nicht mehr unterdrücken konnte und kaltes Wasser seine heiße Lunge füllen würde, kam er auf die Lösung.
»Der einsame Mann fragt einen der beiden Sterne, was der jeweils andere antworten würde, wenn er ihn nach dem Weg zum Leben fragen würde. Beide Sterne würden dann mit ‚Süden’ antworten. Der einsame Mann weiß dann, dass er nach Norden gehen muss. So bekommt er die richtige Antwort!«, rief Antilius im Geiste in das Wasser hinein.
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