Dreh dich um, Antilius. Was immer es auch sein mag, du musst ihm in die Augen sehen. Dreh dich um und sieh ihm in die Augen!
Ich kann nicht. Was kann es bloß sein? Es hört sich irgendwie…
‚knöchern’, war der Begriff, der Antilius nicht einfallen wollte. Aber bevor er ihn hätte in Gedanken aussprechen können, wurde ihm klar, dass es das Skelett vom Eingang sein musste, das die Verfolgung aufgenommen hatte.
Antilius beschleunigte seinen Lauf noch einmal. Mit weiten Schritten hetzte er durch die Dunkelheit. Und das Skelett folgte ihm. Es hatte keinerlei Schwierigkeiten, sich an die höhere Geschwindigkeit anzupassen.
»Verschwinde!«, schrie Antilius entsetzt und außer Atem.
Doch das Skelett dachte nicht daran, ihn zufriedenzulassen. Stattdessen begann es, ihn höhnisch auszulachen. Es war das niederträchtigste Lachen, das er je gehört hatte. Auf welche Weise sollte man beschreiben, wie ein Haufen Knochen einen auslachen konnte? Antilius kam es vor, als ob ihn der Wahnsinn persönlich auslachen würde.
»Gib auf! Gib auf und komm zu mir!«, schrie das Skelett.
Es kannte keine Erschöpfung. Antilius hätte jahrelang durch diesen Tunnel laufen können, das Skelett würde nie müde werden. Es war ja bereits tot. Je mehr Angst Antilius verspürte, desto stärker wurde es. »Gib auf!«, kreischte es.
»Niemals!«, rief Antilius atemlos zurück, ohne sich umzudrehen.
Laufen! Laufen! Doch seine Erschöpfung drohte überhandzunehmen. Und dann. Dann legte sich im Gehirn von Antilius ein Schalter um.
Abrupt blieb er stehen.
»Niemals!«, schrie er mit fester Stimme.
Die Schritte des Skeletts verstummten.
Antilius drehte sich schwer atmend um und leuchtete den Gang mit dem Spiegel aus. Und nur ein paar Meter von ihm entfernt lag das Skelett wieder. Seine Knochen lagen verstreut auf dem Boden. Es war ihm gefolgt. Und jetzt stellte es sich tot (oder besser: Es stellte sich nicht untot). Antilius musste trotz seines Überschusses an Adrenalin, von dem er heute schon reichlich bekommen hatte, bei diesem Gedanken innerlich kichern. Ein Skelett, das sich tot stellte.
»Niemals werde ich umkehren!«, schrie er und trat dem Ding beherzt den Schädel ein. Scharfe Splitter flogen in alle Richtungen. Dann verpasste er dem Brustbein noch einen Tritt, das daraufhin berstend zerbrach.
Ein Befreiungsschlag.
Antilius hatte erst die Hälfte des Weges durch den Tunnel zurückgelegt. Zum ersten Mal fühlte er sich ermutigt.
Kehre um, wenn du dich in der Dunkelheit nicht selbst erkennst.
Er verstand zwar immer noch nicht, was diese Worte zu bedeuten hatten, aber er hatte das Gefühl, es zu erahnen. Der Schalter in seinem Kopf war umgelegt, sodass Antilius wieder für ein rationales Denken empfänglich war.
Er lief weiter. Diesmal rannte er nicht.
Rennen hilft dir nicht. Du kannst nicht davonlaufen.
Die Zeit verstrich. Im Dunkel eh bedeutungslos.
Doch dann irgendwann konnte er ein schwaches Licht am Ende des Tunnels erkennen. Licht!
Er ertappte sich schon dabei, an die Illusion zu glauben, es fast geschafft zu haben, als ein lautes Schnauben direkt hinter ihm seine Bewegungen einfrieren ließ. Es klang wie ein wildes großes Tier, das ihm seinen heißen, stinkenden Atem in den Nacken blies.
»Gilbert«, flüsterte Antilius, ohne sich zu bewegen.
»Ich habe es gehört. Dreh dich um!«
»Ich kann nicht.« Antilius fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
»Du musst! Denke an das Skelett, das du erledigt hast. Es hat sich nicht gewehrt.«
»Aber diesmal hört sich das sehr lebendig an.«
»Dann lass mich schauen.«
Zittrig hielt sich Antilius den Spiegel über die Schulter, während das Ding hinter ihm wieder knurrend seinen widerlichen Odem entgegen blies.
»Da ist nichts. Ich sehe nichts. Moment mal! Jetzt verstehe ich es. Du darfst dich davon nicht ängstigen lassen. Das ist das Geheimnis. Der Korridor spielt mit deinen Ängsten. Nichts hier drin ist real. Das Grauen der Dunkelheit kann sich nur von deiner Angst ernähren. Daraus schöpft es seine Energie. Du musst deine Angst überwinden und dir vorstellen, dass hier nichts ist. Beim Skelett hat es auch funktioniert.«
»Aber ich spüre doch seinen Atem!«, stöhnte Antilius.
»Vertraue mir. Das bildest du dir nur ein. Nur durch deine Vorstellungskraft kannst du das Monster verschwinden lassen. Es kann nur durch deine Angst existieren. Wenn du dich nicht umdrehst, wirst du es weiter hinter dir hören. Und es wird dich weiter schwächen.«
»Wie soll ich das machen?«, schrie Antilius verzweifelt.
»Konzentriere dich! Sag dir, dass dort nichts ist. Es ist nur deine Einbildung. Und dann drehst du dich um.«
Antilius ballte seine Fäuste, kniff die Augen zu und wiederholte innerlich die Worte von Gilbert. Er versuchte, sich nur darauf zu konzentrieren.
»Es ist nicht real. Es ist nicht real.«
Immer wieder wiederholte er die Worte, bis er begriff, dass das Atmen und das Knurren hinter ihm aufgehört hatten.
Er öffnete wieder die Augen und horchte. Dann drehte er sich um. Es war weg. Er hatte es besiegt.
»Sehr gut! Du hast es verschwinden lassen«, freute sich Gilbert und machte einen Luftsprung in seinem Zimmer, sodass er fast an die Decke gestoßen wäre.
Antilius wollte sein Glück nicht herausfordern. Verkrampft ging er weiter zum anderen Ende des Korridors und mit einem Mal stand er mit einem einzigen Schritt in einem beleuchteten Raum, obwohl er überzeugt war, dass er noch mindestens hundert Meter hätte laufen müssen.
Es war eine riesige Halle. Endlich.
Vor Schwäche schwindelte ihm. Er setzte sich auf den Boden aus Stein und lehnte sich an eine Wand.
»Sieh doch! Wir haben es gefunden«, rief Gilbert aufgeregt.
Antilius drehte seinen Kopf nach rechts und schaute auf ein würfelförmiges Gebilde, das nur aus dünnen Streben bestand und keine Wände besaß. Er hatte sich bis dahin das Tor ganz anders vorgestellt und war sich zunächst nicht sicher, ob es auch wirklich das Tor war, nach dem sie suchten. Aber er fühlte, dass es das Tor war.
Kein Zweifel.
Es war das Zeittor.
Gilbert ließ seinem Freund eine Weile Zeit, sich wieder zu erholen. Er selbst hatte den Dunklen Tunnel nur durch die Spiegelwand mitbekommen und konnte nur erahnen, welche Ängste Antilius in der Finsternis durchlitten haben musste.
»Geht es dir jetzt besser?«, fragte er.
»Ja, ja.« Antilius sammelte sich wieder. Er steckte Gilberts Spiegel in seinen Gürtel und begann, das Würfelgerüst, das anscheinend das Zeittor war, zu untersuchen. Es befand sich in der Mitte des Saales. Der Würfel war fast so groß wie das Haus, in dem Brelius Vandanten lebte.
Im Würfelinneren gab es allerdings nichts Interessantes zu sehen, außer dem Fußboden. Er wies Rußspuren auf.
»Siehst du das, Gilbert? Sieht fast so aus, als wäre hier etwas verbrannt. Oder jemand.«
Das Würfelgestänge sah äußerst stabil aus. Wahrscheinlich war es auch aus Amedium gefertigt. Die Streben, aus denen das Gerüst bestand, waren so dick wie eine Faust. Zusätzlich waren sie über und über bedeckt mit eingravierten Texten. Es schien sich um eine Symbolsprache zu handeln, die auch Gilbert nicht kannte. Antilius betrachtete die Schrift genauer. »Was da wohl geschrieben steht?«
»Sieht irgendwie nicht wie ein Tor aus«, sagte Gilbert.
»Das muss es aber sein.« Der Meister schlich einmal um das Tor herum, wurde dadurch aber auch nicht schlauer.
»Nun mach schon!«, drängte Gilbert.
»Hmm?«
»Geh in das Tor! Stell dich hinein!«
»Ich weiß nicht. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Und das nicht nur wegen des Rußes auf dem Boden.« Den Gedanken, dass das kleine Häufchen Ruß einmal Brelius gewesen sein könnte, verdrängte Antilius rasch.
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