Antilius zog den Spiegel aus seinem Gürtel und schaute den darin stehenden Gilbert ernst an. »So richtig bin ich noch immer nicht von diesen Zeitreisen überzeugt, aber nach dem, was ich bisher erlebt habe, bin ich mir nicht mehr sicher, was ich glauben soll und woran ich überhaupt glauben kann.«
Noch während Antilius diese Worte aussprach, merkte er, dass irgendetwas mit dem Spiegel nicht stimmte, genauer gesagt mit seinem Inneren. »Gilbert, hast du irgendetwas in deinem Zimmer verändert?«
Gilbert schaute sich verdutzt um und zuckte mit den Achseln. »Nicht, dass ich wüsste. Was stimmt denn deiner Meinung nach nicht?«
»Dein Fenster. Sieh doch! War da nicht eine Graslandschaft mit wild wachsenden Blumen? Da ist ja auf einmal ein Meer!«
Gilbert drehte sich um und schaute gelangweilt zum Fenster. »Und?«, fragte er mit hängenden Schultern.
Antilius war verwirrt. »Ja, aber wie geht das? Was ist passiert?«
»Das habe ich dir doch erzählt. Da draußen hinter diesem Fenster, ist nichts. Es ist das Nichts. Hinter meinem Fenster ist gerade ein Meer, weil ich es mir vorstelle, und wenn ich mir eine Wiese mit Wildblumen vorstelle, dann ist dort draußen eine Wiese mit Wildblumen. Und wenn ich mir einen Baum vorstelle, dann ist dort ein Baum.«
Antilius kratzte sich am Kinn. Dieses Spiegelgefängnis war wohl das bisher Verrückteste, das er je gesehen hatte. »Ja, stimmt. Das hast du mir erzählt. Es ist also nur eine Illusion. Sehr merkwürdig.«
»Ich zeige es dir.« Gilbert stellte sich zur Seite, um Antilius ungehindert Blick auf sein Fenster geben zu können. Er schnippte einmal mit dem Finger und das Meer hinter dem Fenster löste sich langsam in einem dichten Nebel auf. Antilius verfolgte das Geschehen gebannt, und auch Pais war von dieser Verwandlung überrascht, als er Antilius über die Schulter in den Spiegel schaute. Der Nebel löste sich dann wieder auf, und die bekannte Wiese erschien wieder.
»Damit könntest du auftreten, Gilbert. Ich habe es dir immer gesagt«, meinte Pais.
»Wie funktioniert das?«
Erneut zuckte Gilbert mit den Achseln: »Wenn ich das wüsste. Es funktioniert eben. Es ist mir aber auch gar nicht wichtig, nach dem ‚Wie’ zu fragen. Die anfängliche Faszination schlägt nämlich schnell in Gleichgültigkeit um, wenn einem bewusst wird, dass es hier kein Entkommen gibt. Im Übrigen soll es schon viele Spiegelgefangene gegeben haben, die versuchten, durch das Fenster zu fliehen, doch sie landeten im Nichts und hatten keine Gelegenheit mehr, ihren Fehler zu bereuen.«
»Was bedeutet das?«
»Im Nichts kann auch nichts existieren.«
»Soll das etwa bedeuten, dass …«
Gilbert nickte ernst. »Genau das bedeutet es.«
»Ich hoffe für dich, Gilbert, dass du irgendwann da wieder heraus kommst«, sagte Antilius ehrlich.
Er steckte den Spiegel wieder ein, und Pais und er setzten ihren Marsch in der Stadt der Riesen fort. Sie suchten das zentrale Gebäude, in dem sie, wenn der Sandling recht hatte, das Zeittor vermuteten. Antilius versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber die unglaubliche Größe der Häuser, Straßen und Gehwege machten ihn sehr beklommen. Er kam sich wie eine Ameise vor. Eine Ameise in einer Geisterstadt der Riesen.
Pais schien es aber ebenso zu ergehen. »Seht doch nur! Alles ist noch so, als ob hier noch vor wenigen Augenblicken Largonen gelebt haben.«
Riesige Karren standen mitten auf den Straßen, die Türen von Geschäften waren geöffnet, das riesige Gemüse auf einem Verkaufsstand faulte langsam vor sich hin.
Antilius schaute an jeder Kreuzung, in jedem Winkel nach, ob sich nicht doch noch ein Largone hier aufhielt. Die Späher hatten die Largonen mitten aus ihrem Alltag gerissen, und nur noch bedrückende Stille zurückgelassen. Obwohl keiner der Riesen mehr hier war, meinte Antilius noch ihre Anwesenheit zu spüren.
Welche Macht müssen die Späher besitzen, dies fertig zu bringen?, dachte Antilius mit Grauen.
»Da vorn! Das Monstrum da muss es sein«, rief Pais.
Er zeigte auf ein würfelförmiges Gebäude, das so wie alle anderen Häuser auch aus massiven Steinen gebaut war, nur mit dem Unterschied, dass es kubisch war und nur in der obersten Etage Fenster besaß. Auf dem flachen Dach des Steinklotzes prangte eine merkwürdige, zehn Meter hohe Skulptur, die zwei ineinander verschlungene Knochen darstellte. Antilius vermutete, dass die Knochen einmal einem gigantischen Urtier gehört haben mussten.
Als er als Erster die Eingangstür erreichte, überlegte er, ob er an den Griff herankommen könnte, doch es war zu hoch für ihn oder besser ausgedrückt, er war zu klein. Diese Tür war nicht für Menschen gebaut. Sie war fast viermal so groß wie er.
»Warte, ich hebe dich hoch«, schlug Pais vor. Doch Antilius winkte ab. »Nein, das hat keinen Sinn. Ich würde trotzdem nicht herankommen. Wir müssen hier etwas suchen, auf das ich mich drauf stellen kann.«
Nachdem er und Pais ein paar (für largonische Verhältnisse) kleine Holzkisten zusammengetragen und vor der Tür aufgestapelt hatten, kletterte Antilius auf die oberste Kiste. Er umschloss den voluminösen Türgriff mit beiden Händen und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht daran, um ihn herunterzuziehen. Ohne Erfolg. Er zog und zog, machte eine Pause und riss dann wild weiter am Griff. Er machte wieder eine Pause und probierte es mit einem Kampfschrei erneut, bis er schließlich aufgeben musste.
»Ich schaffe es nicht. Dieser Griff bewegt sich keinen Millimeter.«
»Wahrscheinlich ist die Tür versperrt. Möchte mal wissen, wie Brelius da durch gekommen ist«, sagte Gilbert.
»Verdammt! Brelius hat sie bestimmt geschlossen, nachdem er ein zweites Mal das Haus betreten hat.«
»Fluchen bringt nichts«, sagte Gilbert überflüssigerweise.
»Und wie wollen wir da jetzt reinkommen? Es gibt für uns nur diesen Eingang«, meckerte Pais nach oben zu Antilius, der erschöpft auf dem Kistenstapel saß.
»Ich weiß es auch nicht.« Antilius war wütend. An dieser blöden Tür durfte es doch nicht scheitern! Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Eine Lösung zu finden. Irgendeine Idee. Ihm fiel aber nichts ein. Der Sandling hatte über den Dunklen Tunnel gesprochen, der ihn am Durchgehen hindern würde. Und von einer Art lebendigen Tür ohne Griff, die unter der Erde den Weg zum Tor versperrte. Aber von einer massiven Holztür über der Erde, die schlicht verriegelt war, hatte er kein Wort verloren. Er wünschte sich einfach nur, dass diese dämliche Tür von selbst aufspringen würde. Das hätten er und seine Freunde, bei all den Entbehrungen und Anstrengungen, die sie auf sich genommen hatten, wirklich verdient.
»Vielleicht sollten wir die Tür einfach in Brand stecken, warten, bis sie nur noch ein Häufchen Asche ist und schlendern dann entspannt hinein«, schlug Gilbert vor.
Pais verzog das Gesicht. »Du Spaßvogel! Diese Tür ist eine Armlänge dick, und außerdem besteht sie aus Immerfestholz. Die kriegen wir niemals angezündet.«
»Wir sollten es doch wenigstens versuchen«, drängte Gilbert weiter.
»Das ist absoluter Blödsinn.«
»Ach, hast du Dickkopf vielleicht eine bessere Idee? Wenn du nörgeln kannst, was ich wieder mal für einen Blödsinn erzähle, ja dann bist du ganz groß, nicht wahr? Aber wenn es darum geht, wenigstens mal ein kleines bisschen selber das Gehirn anzustrengen, dann ...« Gilbert brach sein verbales Gegenfeuer abrupt ab, als er plötzlich ein lautes Rumpeln vernahm. Es kam von der Tür. Antilius hatte es auch gehört und schaute irritiert zu ihr.
Kurz darauf rumpelte es noch einmal und dann folgte ein metallischer Donnerschlag. Ehe er und die anderen begriffen hatten, dass sich von innen der Türriegel geöffnet hatte, ging die gewaltige Holzwand auch schon langsam nach außen auf. Das tonnenschwere Holz schob dabei den Kistenstapel, auf dem Antilius saß, vor sich her. Antilius versuchte sich festzuhalten.
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