Antilius schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich bin nicht stark. Das ist mir klar geworden, seit ich diese Inselwelt betreten habe.«
»Doch. Du hast die Augen. Deine Reise wird noch lang sein. Meine ist schon sehr bald vorüber.«
»Was soll das heißen, ich habe die Augen?«, fragte Antilius.
»Du hast diese besonderen Augen. Oh, wie lange habe ich sie schon nicht mehr gesehen, diese Augen? So viele Jahrhunderte. Ich dachte schon, ich würde sie nie wieder bei einem Menschen sehen. Aber du hast sie. Ja, ich bin mir sicher, dass du sie hast. Deine Augen sind das Licht im Dunkel.« Der Sandling war sehr schwach geworden. Das Gespräch hatte ihn sehr angestrengt. »Ich bin so müde. Ich danke dir, dass du mein Feuer wiedererweckt hast. Für dich ist es jetzt Zeit, deine Reise fortzusetzen.
Geh, Antilius und verhindere die Auferstehung des Transzendenten. Dann wird alles wieder gut werden«, sagte er erschöpft.
Antilius wollte gehorchen. Er erhob sich und wollte sich verabschieden. Doch da brach eine große Menge Sand aus der rechten Körperhälfte des Sandlings und rieselte hörbar zu Boden. Aber der Sandling rührte sich nicht. Er ertrug den Zerfall. Er war darauf vorbereitet.
Antilius merkte gar nicht, wie ihm Tränen in die Augen kamen, so sehr war er von diesem tapferen Wesen ergriffen.
»Wie lange …?« Er konnte die Frage nicht zu Ende bringen, doch der Sandling wusste, was er wissen wollte.
»Wenn das Feuer erloschen ist. Dann werde ich meiner Einsamkeit entfliehen und zu meiner Familie zurückkehren. Auf der anderen Seite des Schleiers der Realität. Dort, wo sie mich schon seit sehr langer Zeit erwarten. Dann ist meine Reise endlich beendet.«
Antilius wurde klar, dass es falsch sein würde zu gehen. Es wäre einfach falsch. Er setzte sich wieder.
»In dieser Nacht bist du nicht allein.«
Und Antilius blieb die ganze Nacht beim Sandling. Er wich nicht von seiner Seite, als die Sterne langsam vorüberzogen. Alles andere verlor in dieser Nacht seine Bedeutung. Nur die Tatsache, dass er bei ihm war, zählte.
Antilius blieb.
Bis das Feuer erloschen war.
Der nächste Morgen war warm und freundlich. Antilius hatte sich seit Beginn seiner Reise noch nie so wohl gefühlt. Es erschien ihm paradox: Eigentlich hätte ihn die letzte Nacht deprimiert haben müssen. Doch die Tatsache, bis zum letzten Augenblick für den Sandling da gewesen zu sein, verschaffte ihm enorme Befriedigung. Es war gut. Eine Aura hatte den Sandling umgeben, die bei Antilius auf eine nicht erklärbare Art und Weise eine Vertrautheit geschaffen hatte.
Hinzu kam noch seine wundersame Heilung. Er fühlte sich absolut fit; bereit, seinen Weg fortzusetzen.
Pais fragte nicht danach, was ihm der Sandling anvertraut hatte, oder warum Antilius die ganze Nacht bei ihm verharrt hatte. Und darüber war Antilius auch froh. Er erzählte ihm aber trotzdem, was er über den Geheimgang, den zu suchen es zu spät war, die verschwundenen Largonen und den Dunklen Tunnel in Erfahrung bringen konnte.
Es dauerte nicht mehr lange, bis sie die Pforten der Largonen-Festung erreichten. Und sie verdiente den Namen Festung wirklich. Die Stadt der Riesen war von einer gigantisch hohen Mauer umgeben. Antilius vermutete, dass sie wenigstens zwanzig Meter in die Höhe ragte. Es gab keine Möglichkeit, dahinter zu schauen. Es war ein unüberwindbarer Wall aus kolossalen Felssteinen. Rings um die steinerne Befestigung verlief ein breiter Wassergraben, um zusätzlichen Schutz zu bieten.
Antilius hielt auf einmal inne und drehte sich um, nachdem er die Anlage betrachtet hatte.
»Was ist? Was hast du?«, fragte Pais unruhig.
Antilius zögerte mit seiner Antwort und lauschte. »Ich weiß nicht. Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«
»Schon wieder diese Piktins?«, schnaubte Pais.
Antilius schüttelte den Kopf: »Nein, ich habe nur das Gefühl, dass wir verfolgt werden.«
»Also ich habe niemanden gesehen. Obwohl ich mir gut vorstellen kann, dass wir überwacht werden«, sagte Pais fast gleichgültig.
»Ach, ich glaube, ich bin nach der Sache mit den Gorgens und den Piktins einfach ein wenig nervös«, sagte Antilius. Er glaubte nicht daran, dass Koros’ Männer ihn beobachteten, hatte doch Koros ihm in seinem letzten Traum gesagt, dass er ihn nicht telepathisch erreichen könne, wenn er wach war. Also konnte er auch nicht wissen, wo sich Antilius aufhielt. Dies war vermutlich sein einziger Vorteil, den er noch besaß.
Schließlich erreichten die beiden Männer zusammen mit Gilbert das Eingangstor.
Die riesige Zugbrücke war hochgezogen, sodass ein etwa sieben Meter breiter Graben sie von dem Festungseingang trennte.
»Na toll, nun sind wir so weit gekommen, und jetzt das!«, beschwerte sich Antilius. »Wahrscheinlich hat Brelius sie hochgezogen, als er noch einmal hierhergekommen ist, auch wenn ich mich frage, wie er das alleine fertig gebracht hat.«
Er trat einen Schritt nach vorne und begutachtete den Wassergraben. Das Wasser war dunkel und trüb. Es stank vermodert.
»Das sieht nicht sonderlich tief aus. Und selbst wenn, könnten wir hindurchschwimmen und versuchen, an der Mauer hochzuklettern«, sagte Antilius.
»Nein«, widersprach Pais. »Dieser Graben hat einen sehr morastigen Untergrund. Du würdest darin stecken bleiben und versinken. Und wer weiß, welche Kreaturen in diesem trüben Gebräu lauern. Nein, wir müssen etwas anderes probieren«, sagte er und schaute dabei an das obere Ende der Zugbrücke. »Seht ihr das da oben?«
Antilius und Gilberts Augen folgten Pais’ Fingerzeig. Gilbert steckte wieder im Gürtel seines Meisters.
»Die Zugbrücke ist nur mit einem kleinen Holzriegel gesichert. Wenn wir an ihn heran kommen und ihn entfernen würden, könnten wir die Zugbrücke ganz einfach öffnen.«
Die Lösung dieses Problems war schnell gefunden.
Pais hatte - schon vor dem Beginn ihrer Reise - einen Bolzen für seine Armbrust so präpariert, dass er in seinem Inneren eine kleine Menge an Schießpulver mit sich führte, das sich beim Aufschlag entzünden würde. Antilius staunte nicht schlecht: Schießpulver war auf Thalantia eine absolute Rarität und sündhaft teuer. Pais legte den Bolzen in das Katapult seiner Armbrust und zielte auf den Riegel, der die Brücke in der Senkrechten hielt. Mit ruhiger Hand drückte er ab.
Der Bolzen schoss auf den Riegel zu, bohrte sich hinein und fast zeitgleich explodierte das in ihm enthaltene Schießpulver und zersplitterte den Holzriegel. Ganz langsam setzte sich die Zugbrücke in Bewegung, immer schneller wurde sie und sauste anschließend donnernd nach unten. Mit einem lauten Schlag, der die Erde erzittern ließ, kam sie mit der Oberkante auf der anderen Seite des Grabens zum Liegen und machte den Weg frei in die Festung.
Der einsame Mann und die Sterne
»Ich verstehe das nicht. Wie kann man alle Bewohner einer Stadt einfach verschwinden lassen? Und dazu noch solche Riesen. Ich meine, seht euch doch nur mal die Breite dieser Straße hier an. Die ist doch fast viermal so groß wie die in Fara-Tindu«, staunte Gilbert aufgeregt, als er durch den Spiegel in seinem kleinen Zimmer beobachtete, wie die gewaltigen Gebäude der Largonen zur Linken und zur Rechten von vorn nach hinten durchs Bild in seinem Wandspiegel fuhren.
»Ja, du hast recht. Das ist schon unglaublich, aber diese Späher, mit denen ich sprach, waren auch nicht gerade das, was ich als normal bezeichnen würde. Ich kann mir schon vorstellen, dass sie diese Fähigkeit besitzen«, sagte Antilius.
Gilbert legte die Stirn in Falten. »Was ist denn mit dir los, Antilius? Seit wann glaubst du denn an übermächtige Wesen, die andere einfach mit einem Fingerschnippen verschwinden lassen können? Du hast doch nicht einmal an die Existenz des Zeittores geglaubt.«
Читать дальше