Der Sandling schien den Besucher nicht zu bemerken. Antilius stellte sich direkt vor ihn. Nur das bescheiden glimmende Holz trennte sie. Holz war eigentlich in dieser Gegend Mangelware, aber nicht unweit vom Sandling ragte ein toter Baum aus der Erde, der nun als Heizmaterial diente.
»Hallo. Ich heiße Antilius«, sagte er unsicher.
Keine Reaktion. Der Sandling schaute ausdruckslos auf den Boden. Dennoch war sich Antilius sicher, dass er ihn wahrgenommen hatte. »Ich will dir nichts tun. Ich komme von weit her«, sagte Antilius zögerlich.
Nach einer Weile hielt er das Stehen nicht mehr aus. Der Fuß. Mithilfe seiner Krücke setzte er sich langsam und umständlich zu Boden.
»Schmerzt es?«, fragte der Sandling plötzlich. Träge richtete er seinen Kopf auf. Sand fiel von ihm ab und rieselte zu Boden. Erst jetzt entdeckte Antilius, dass rund um das Geschöpf herum ein kleiner Sandteppich ausgebreitet war. Bei jeder Bewegung des Sandlings kam weiterer Sand hinzu, der von ihm abfiel.
Erstmals konnte er sein Gesicht erkennen. Es bestand ebenfalls aus feinem goldenen Wüstensand. Seine Augen waren auch golden, doch sie glänzten nicht. Sie waren matt. Sie hatten ihre Lebenskraft verloren.
Antilius hatte vor lauter Aufregung gar nicht zugehört, wonach ihn das Wesen gefragt hatte.
»Schmerzt es dich?«, wollte der Sandling wissen und deutete auf den verletzten Fuß. Wieder fiel dabei Sand von ihm ab.
»Ja. Ja, es tut sehr weh.«
»Schmerzen sind keine gute Sache.« Das Wesen machte ein mitleidiges Gesicht. »Ich werde dir helfen. Zeige mir deine Verletzung.« Seine Stimme klang leicht brüchig. Alt, aber weise. Warm und ein wenig wehmütig.
Antilius schob sich neben den sprechenden Sand und zeigte ihm seinen Fuß. Der Sandling war fast doppelt so groß wie er. Er streckte seinen Arm aus, wodurch sich noch viel mehr Sand als zuvor von ihm löste. Er umschloss mit seiner großen körnigen Hand die verletzte Stelle.
Zunächst spürte Antilius nichts. Doch auf einmal wurde sein Knöchel heiß. Anfangs war es noch auszuhalten, doch es wurde immer heißer. Dann brannte es so sehr, als ob ihm jemand heiße Lava auf den Fuß gegossen hätte. Er versuchte, einen Schrei zu unterdrücken. Aber dann schrie er doch. So laut wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und als er nicht mehr schreien konnte, weil er glaubte, in Ohnmacht gefallen zu sein, fühlte er auf einmal nichts mehr. Kein Brennen. Keinen Schmerz.
Ungläubig bewegte er vorsichtig das Gelenk. Es tat nicht mehr weh. Er zog den Stoff des Hosenbeins höher, um das Wunder genauer zu untersuchen. Die Haut war noch ein wenig dunkel verfärbt, aber der Schmerz war fort, genauso wie die Schwellung. Der Fuß hatte seine völlige Bewegungsfreiheit wiedererlangt.
Fragend und staunend schaute er den Sandling an. »Wie hast du das gemacht?«
Das Geschöpf legte seinen Kopf ein wenig zur Seite. Dabei fiel wieder Sand herab und Antilius sah, dass dies die Ursache für die zerfurchte Oberfläche des Gesichts und Körpers war.
»Was geschieht mit dir?«, fragte Antilius.
»Es fällt schwer, die Form zu behalten«, sagte der Sandling leise.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Es ist so kalt. Die Sonne, wo ist sie?« Er schaute sich um.
»Sie ist untergegangen.«
»Ich friere so sehr!«, seufzte das Wesen aus Sand.
»Ich werde das Feuer wiederbeleben«, sagte Antilius und sprang auf. Er konnte es immer noch kaum fassen, dass er wieder völlig geheilt war. Er sprintete zu dem toten Baum hinüber und brach Zweige ab. Als er einen großen Stapel gesammelt hatte, schichtete er es sorgfältig auf dem alten Haufen auf. Die Resthitze entfachte nach kurzer Zeit das trockene Geäst, und große Flammen begannen zu tanzen und das Holz zu verzehren.
»Besser?«, fragte er.
»Es wird wärmer.«
Beide schauten eine Weile in das Feuer. Die Nacht hatte begonnen. Pais saß mit Gilbert in etwa einhundert Meter Entfernung und beobachtete die beiden geduldig.
»Wer bist du?«, fragte das Wesen schließlich unvermittelt.
»Ich bin Antilius. Ich bin auf der Suche.«
»Was suchst du?«
»Ich suche jemanden, der Brelius Vandanten heißt.«
»Brel… Was? Wer?« Der Sandling war verwirrt.
»Er ging durch das Zeittor, das sich hier in der Nähe befinden soll. Hast du ihn gesehen?«, half ihm Antilius.
»Ah! Der Zeitreisende. Oh ja, ich erinnere mich. Ich habe mit ihm geredet.«
»Was hat er dir gesagt?« Antilius verspürte eine leichte Ungeduld in sich aufsteigen, doch er bemühte sich, sie zu kontrollieren.
»Er war besessen«, sagte der Sandling. »Der arme Mann! Sein Verstand hat gelitten. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Ich bin zu schwach.«
»Sprich weiter, alter Sand. Erzähle mir alles!«
»Das erste Mal, als er hier war, wollte er nichts mit mir zu tun haben. Doch als er das zweite Mal vorbeikam und erneut zum Tor ging, wollte er, dass ich jemandem etwas ausrichte.«
»Wem? Mir?«
»Demjenigen, der die Augen besitzt«, sagte der Sandling und sah Antilius ausdruckslos an.
»Was hat der Zeitreisende namens Brelius noch gesagt?«
»Du sollst zu ihm kommen. Du musst in das Dorf der Riesen und dort in das zentrale Haus, die Halle des Schicksals, gehen. Dort ist das Zeittor. Das Haus in der Mitte. Das hat er gesagt.«
»Ich weiß aber nicht, wo der Geheimgang liegt, der in die Festung führt.«
»Geheimgang. Schlecht. Sehr schlecht.«
»Wieso?«
»Der geheime Gang ändert seinen Eingang jedes Mal, wenn er benutzt wird. Du wirst ihn nicht rechtzeitig finden können. Du darfst damit keine Zeit verschwenden. Es eilt, Antilius. Es eilt.«
»Aber Brelius muss ihn auch gefunden haben. Wie hätte er sonst das Zeittor durchqueren können?«, sagte Antilius laut. Dem Sandling schien aber diese Lautstärke Schmerzen zu bereiten. Er machte eine abwehrende Geste.
»Entschuldige.«
»Vergiss den Geheimgang. Du musst in die Stadt der Largonen und den Dunklen Tunnel zum Zeittor durchschreiten.«
»Aber die Largonen! Ohne den Geheimgang werde ich nicht an ihnen unbemerkt vorbeikommen.«
»Es gibt keine Largonen mehr.«
»Was? Was soll das bedeuten?«
»Sie sind fort. Verschwunden. Aus der Zeit eliminiert«, sagte der Sandling müde.
»Sie sind alle weg?«, fragte Antilius verwirrt.
»Alle.«
»Wo sind sie hingegangen?«
»Sie sind nicht gegangen. Sie wurden einfach gestohlen.«
»Das verstehe ich nicht. Wie lange sind sie schon fort?«
»Schon bevor der Zeitreisende das erste Mal das Tor aufsuchte.«
»Das ist also die Erklärung, warum Brelius überhaupt in die Festung gelangen konnte. Ich verstehe aber nicht, was mit den Largonen geschehen ist. Weißt du, wer die Largonen gestohlen hat? «
»Nein. Es muss aber etwas sehr Mächtiges gewesen sein.«
»Kennst du die Späher?«
»Späher? Namen. Ich kann mir Namen so schlecht merken.«
»Ich bin ihnen in einem riesigen Turm aus Stein begegnet. Manche nennen ihn den Stein der Zeit.«
Der Sandling wurde auf einmal unruhig.
»Der Stein der Zeit? Er ist wieder aufgetaucht? Wie kann das möglich sein?«, flüsterte er mit zittriger Stimme.
»War er denn nicht schon immer da?«
»Nein! Nein, der Stein der Zeit verschwand, nachdem die beiden Fragmente versteckt worden waren.«
»Fragmente? Meinst du die Zeittore?«
Der Sandling nickte schwach. »Niemand sollte sie mehr benutzen dürfen. Sie sind wieder da? Das ist nicht gut. Nicht gut.«
»Wären die Späher in der Lage, die Largonen zu stehlen? Ich meine, die Largonen aus der Zeit zu eliminieren und sie damit aus ihrer Stadt zu verbannen?«
»Ja, das wären sie. Das ist nicht gut. Daran ist der Zeitreisende schuld! Er schritt durch das Tor und erweckte damit die Späher aus ihrem endlosen Schlaf.« Zum ersten Mal wirkte der Sandling zornig.
Читать дальше