Die Tür knarrte immer weiter nach außen auf. Der improvisierte Kistenturm begann zu wanken. Antilius versuchte, die Schwingungen mit seinem Gewicht auszugleichen. Dann verlor er selbst das Gleichgewicht und fiel mit den Armen rudernd herunter, konnte sich aber noch im letzten Moment an dem oberen Rand einer Holzlatte festklammern. Doch das nützte ihm wenig. Der kleine Kisten-Turm neigte sich so weit zur Seite, dass er schließlich umzustürzen begann. Antilius stieß einen Schrei aus und stürzte samt den Holzkisten zu Boden. Pais machte sich sofort daran, ihn aus dem Bretterhaufen zu befreien.
»Danke, es geht schon. Ich glaube, ich habe mir nichts gebrochen.«
Die Tür kam schließlich zum Stillstand und stand nun einen Spalt weit auf. Es war wieder Totenstille in der Largonen-Stadt.
Pais lächelte: »Da hast du aber verdammtes Glück gehabt.«
Antilius hustete Staub aus. »Kein Problem für mich. Ich habe schon eine gewisse Übung im Abstürzen entwickelt.«
Pais half ihm wieder auf die Beine und grinste verhalten, was Antilius aber sofort bemerkte. »Tut mit leid, aber es sah irgendwie ulkig aus, wie du auf dem wankenden Kistenturm balanciert hast«, sagte Pais.
»Schon gut. Ich wundere mich nur, dass unser lieber Freund Gilbert noch gar nicht von Lachkrämpfen gepeinigt auf dem Boden liegt.«
»He, was denkst du von mir? Ich lache dich doch nicht aus! Du bist mein Meister«, beschwerte sich Gilbert und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Jedenfalls lache ich nicht jetzt. Sag mal, wie hast du das nur geschafft?«
»Was geschafft?«
»Die Tür zu öffnen!«
»Ich weiß es nicht. Ich habe eigentlich nichts gemacht. Ich habe nur überlegt, wie wir in das Gebäude gelangen können, und auf einmal öffnete sich das Schloss, und die Tür ging auf.«
»Tja, dann sollten wir hineingehen, meint ihr nicht?«, sagte Pais und rieb sich die Hände.
Der riesige Eingang barg Dunkelheit. Das Tageslicht reichte nicht aus, um das Innere ausreichend zu erhellen.
»Hmm. Ich dachte erst, jemand hätte die Tür von innen geöffnet. Aber hier ist niemand. Ich kann jedoch nicht weit sehen. Gibt es hier kein Leuchtgas oder Fackeln?«, wunderte sich Antilius.
»Keine Sorge. Ich habe meine Petroleumlampe dabei und deine auch, Antilius.«
Pais kramte in seiner Tasche und holte die beiden kleinen Lichtspender heraus.
Antilius versuchte vergeblich, seine Lampe zu entzünden.
»Auch das noch! Durch diese verdammten Gorgens ist sie jetzt völlig aufgebraucht! Ich habe kein Petroleum mehr«, fluchte er unbeherrscht.
»Macht nichts. Meine wird schon ausreichen.«
Antilius ging vorsichtig los. »Wir werden dort lang gehen«, sagte er, ohne zu wissen, was sie in dieser Richtung erwarten würde.
Antilius kam sich vor wie in einem gigantischen Gespensterschloss. Um sie herum herrschte völlige Finsternis. Ihre Schritte hallten in den großen Räumen lange und geräuschvoll wider.
Gegen das spartanische Äußere dieses Gemäuers wirkte das Innere geradezu verschwenderisch prunkvoll. Tonnenschwere Kronleuchter hingen gefühlte hundert Meter über ihren Köpfen. Statuen aus Stein, die Largonen in Rüstungen darstellten, säumten die Gänge. Und unvorstellbar große Gemälde, die Largonen in irgendwelchen vergangenen Schlachten darstellten, bedeckten die Wände. Antilius bekam eine Gänsehaut, und er war sich sicher, dass es Pais ebenso erging.
Sie gingen durch ein Foyer, an das sich zwei breite Gänge anschlossen. Sie entschieden sich, den rechten Gang zu nehmen, der zu einer langen Treppe führte. Oben angekommen durchquerten sie einen riesigen Saal mit einem großen ovalen Tisch und Stühlen, von dem sie vermuteten, dass es sich um den Speisesaal handeln musste. Unerhört riesig. Vom Tisch bis zu den Stühlen. Am anderen Ende des Saals kamen sie zu einer breiten Treppe, über die sie wieder ins Erdgeschoss gelangten. Daran schloss sich eine zweite Treppe an, die unter die Erde führte.
»Das muss es sein. Hier geht es abwärts. Wir sind fast am Ziel. Ich bin mir ganz sicher. Ich kann es fühlen«, sprach Antilius ehrfürchtig.
»Es ist so still. Viel zu still«, flüsterte Pais.
Er leuchtete mit seiner Lampe die Umgebung ab, um nach möglichen Fallen Ausschau zu halten. »Das gefällt mir nicht«, sagte er.
Der Lichtschein seiner Petroleumlampe fiel nach oben an den Mauerrahmen des Treppeneingangs. Schriftzeichen waren in das Mauerwerk eingraviert.
»Was ist das für eine Sprache? Ich kann sie nicht lesen«, flüsterte Pais, als ob er vermeiden wollte, durch jemand Fremden belauscht zu werden. Die Dunkelheit und die kuriose Umgebung machten sogar ihn unruhig.
Gilbert bat Antilius, seinen Spiegel näher an die Schrift heran zu halten und sah sie sich genauer an. Er erkannte sie.
»Das ist eine sehr alte Sprache der Largonen. Ich glaube, ich weiß, was da geschrieben steht«, sagte er.
»Was?«, fragte Antilius hastig.
Gilbert zögerte.
»Nun sag schon, was bedeuten diese Zeichen?«
»Da steht: Hier endet der erleuchtete Weg. Kehre um, wenn du dich in der Dunkelheit nicht selbst erkennst.«
Antilius bekam plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Was sollte das bedeuten? Die vagen Hinweise des Sandlings halfen ihm auch nicht weiter. Aber wenn der alte Sand nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass man die Dunkelheit durchqueren könne, dann hätte er ihn nicht ermutigt, es zu versuchen.
»Ach, wird schon nicht so schlimm sein«, bemühte sich Antilius, sich und den anderen Mut zu machen, aber seine Stimme bebte angsterfüllt. »Woher kennst du eigentlich diese Sprache, Gilbert?«
»Das ist eine längere Geschichte. Ich werde sie dir irgendwann mal erzählen«, sagte Gilbert.
Pais stellte sich vor die erste Stufe und leuchtete die Treppe nach unten ab. Sie bog sich nach rechts, sodass er nicht bis ganz nach unten sehen konnte. »Am Ende dieser Treppe muss der Tunnel sein«, sagte er.
Der Dunkle Tunnel.
»Komm rein Antilius, dann wirst du nie wieder herausfinden. Stattdessen wirst du hier bei mir in der Dunkelheit bleiben und verrückt werden. Komm zu mir! Komm zu mir!«, hallte es in Antilius’ Kopf, so als hätte er gerade einen Tagtraum.
Er verharrte einen Augenblick vor der Treppe, schluckte dann einmal kräftig und stieg langsam hinab. Pais folgte dicht hinter ihm. Ihre Schritte hallten an den Wänden noch lauter wider als zuvor. Sie erreichten die Biegung. Pais leuchtete um die Ecke, konnte jedoch nichts erkennen. Je tiefer sie hinabstiegen, desto kälter wurde ihnen. Es wurde eiskalt. Jedes Mal, wenn sie ausatmeten, bildeten sich kleine Wölkchen.
Immer mehr Stufen führten hinab. Die Treppe machte schon wieder eine Biegung. Diesmal nach links. Es war noch viel tiefer, als sie vermutet hatten.
Antilius fühlte sich, als ob er direkt in den Schlund des Bösen marschieren würde.
Dann, nach unendlich langen Sekunden: das Ende. Sie befanden sich nun mitten in einer Art Vorraum. Für Largonen-Verhältnisse war er relativ klein. Ein geradezu protziges Tor versperrte den Eingang zum Dunklen Tunnel. Es war noch mächtiger als jenes am Eingang des Gebäudes. Es gab keinen Griff, und Antilius konnte auch keinen anderen Öffnungsmechanismus ausmachen. Ähnlich wie im Stein der Zeit bei den Spähern.
Alles hier unten war alt. Uralt. Wasser sickerte an einigen Stellen aus den Felswänden hervor. Es roch nach Morast.
»Das Haus über diesem Raum muss viel später gebaut worden sein. Dieser Raum hier ist wesentlich älter«, mutmaßte Antilius.
Zu ihrer Rechten lag ein großes Sandfeld. Es war kreisförmig. Wie ein überdimensionierter Sandkasten sah es aus. Etwa vier Meter im Durchmesser. Pais leuchtete das ebene Sandfeld ab und erschrak. In der Mitte lag ein großes Skelett. Es war weder menschlich noch largonisch. Es sah aus wie das Skelett einer mutierten Riesenratte.
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