Johnsen seufzte erleichtert. Björn ging es also gut.
Erst jetzt bemerkte er Weyn, der auf einmal ein paar Schritte von ihm entfernt stand. Der war ein wenig blass um die gerötete Nase, was dem Gesicht einen lustigen Kontrast verlieh. Einen großen Regenschirm in der einen und ein Taschentuch in der anderen Hand, trat er auf Johnsen zu.
„Hei Jørn, du warst aber schnell.“ Er zog eine Augenbraue hoch und machte mit der betaschentuchten Hand eine Bewegung, als gebe er das Startsignal für ein Grand Prix Rennen.
Johnsen zuckte mit den Schultern und sparte sich jegliche Erwiderung. Der Schwall an ausnahmslos nicht jugendfreien Flüchen hatte nachgelassen. Johnsen wandte sich neugierig wieder dem feuchten Treiben zu, in das sich der Kollege – warum war ihm noch immer ein Rätsel – gestürzt hatte.
„Björn hat darauf bestanden, sich die Leiche zunächst an Ort und Stelle anzusehen“, beantwortete Weyn die unausgesprochene Frage.
„Du weißt ja, wie er ist. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, gibt er keine Ruhe.“ Er zuckte mit den Achseln. „Meiner Meinung nach ist dieses Unterfangen völlig sinnlos, weil der oder die Tote wahrscheinlich hier von der Brücke gefallen ist und sich dort hinten im Geäst verfangen hat. Es würde völlig reichen, sie einfach herauszuziehen und an Land anzugucken. Aber nein, er muss die Sache natürlich wieder einmal hypergründlich begutachten.“
„Wenn er auf ein kaltes Bad besteht, dann soll er es eben haben“, entgegnete Johnsen kalt. „Wisst ihr sonst schon irgendetwas über die Person?“
Weyn schniefte. „Eine Frau oder ein zierlicher Junge, dem ersten Eindruck nach zu urteilen. Blond.“
„Sonst nichts?“
Weyn schüttete den Kopf.
Missmutig blickte Johnsen nach oben, was er sofort bereute, als ein großer Tropfen direkt auf seine Pupille traf. Er rieb sich das Auge und tauschte einen Blick mit Weyn. Warten zählte bei beiden nicht gerade zu den großen Stärken.
Synchron verschränkten sie die Hände vor der Brust und betrachteten schweigend den großen, schwarzen Frosch im Wasser. Es goss auf die beiden unbeweglichen Gestalten herab und außer dem Prasseln der Tropfen und dem Rauschen der Drevja war nichts zu hören. So standen sie nebeneinander auf der Brücke, der Mittvierziger mit den dunkelblauen, tiefgründigen Augen und dem dichten, blonden Haar und der kleinere und mindestens einen Zentner schwerere Weyn mit dem runden Gesicht und der schwarz umrandeten Brille.
Björn stülpte gerade eine Weste über den leblosen Körper, an der ein weiteres Seil befestigt war. In einer Akribie, die unter diesen Umständen wahrlich bewundernswert war, tauchte Björn dann nach weiteren Fundstücken. Alles, was er finden konnte, steckte er in einen leuchtend roten Sack. Allem Anschein nach war es nicht viel. Der Körper war über und über mit kleinem Geäst und allerhand pflanzlichem Treibgut bedeckt. Johnsen und Weyn beobachteten Björn, wie er an der Leiche herumfingerte und, begleitet von Kommentaren wie „noch so ein Dreck …“, eine Handvoll angeschwemmter Zweige achtlos fortwarf.
Sie verloren das Interesse. Bis die Leiche endlich an Land sein würde, konnte es noch dauern. Johnsen sah den Gerichtsmediziner auf sie zukommen.
„Sauwetter“, brummte Tarek, nachdem er Weyn und Johnsen die nassen Hände geschüttelt hatte. Missmutig zog er seinen Kragen enger um den Hals und deutete mit der Nase auf die dicken Wolken über ihnen, die es munter auf sie herabregnen ließen.
„Ach was, es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung. Hier, komm her!“ Johnsen griff in seine Manteltasche und zauberte einen gefalteten Regenschirm hervor, den er aufklappte und dem Gerichtsmediziner über den Kopf hielt.
„Perfekt ausgerüstet, der Kollege!“, lobte der Gerichtsmediziner, während Thor sich ebenfalls unter den Schirm quetschte, seine Brille abnahm und sie mit dem Zipfel seines Pullovers zu putzen begann. Nachdem er seine Brillengläser von den Wassertropfen befreit hatte, blickte er missmutig auf seine schlammverschmierten Schuhe.
„Bist doch sonst nicht so eine Memme“, feixte Johnsen. Dann wandte er sich dem Gerichtsmediziner zu. „Den hab ich immer im Auto. Genau wie Wechselklamotten, einen Ersatzkanister Benzin, was zum Trinken, eine Isomatte …“, begann Johnsen aufzuzählen, unterbrach sich dann und deutete auf den im Wasser stehenden Björn.
„Seht mal, er winkt! Schaut so aus, als ob er endlich fertig ist. Jetzt bin ich aber mal neugierig.“
Björn hängte sich an das Paket und brüllte der Bergrettung den Befehl zu, ihn und den Leichnam zu bergen. Das Herausziehen der Toten stellte sich als schwieriger heraus als gedacht, denn die Zweige der abgestorbenen alten Kiefer haschten immer wieder nach dem leblosen Körper und hielten ihren Fang beharrlich fest. Björn musste wiederholt eingreifen und als er einmal beinahe seinen Sack dem Fluss übergeben hätte, fluchte er so laut, dass Weyn und Johnsen sich betroffen anblickten.
Zur Untätigkeit gezwungen, beobachteten die beiden Kriminalbeamten und Tarek das Geschehen.
Schließlich war es so weit. Johnsen und Weyn liefen eilig hinüber, gefolgt von dem kleinen Männchen, das seine Glatze mit einer grauen Mütze unter der Kapuze vor der Kälte geschützt hatte. Sie wurden jedoch rabiat vom pitschnassen Björn zurückgehalten.
„Einen Moment bitte, die Herren!“
Unwillig standen sie daneben, während Björn sich voll und ganz seiner Arbeit widmete. Jørn und Thor wussten aus Erfahrung, dass es am Klügsten war, ihn erst einmal seine Untersuchungen machen zu lassen. Tarek hatte ohnehin das Selbstbewusstsein eines Eichhörnchens. Also warteten die drei unter dem Regenschirm zusammengedrängt, von dem Thor weit mehr als ein Drittel beanspruchte. Endlich war die triefende Gestalt mit dem schütteren Haar fertig und richtete das Wort an sie. Björn konnte – mitunter auch zu Recht – ziemlich biestig werden, wenn man ihm dazwischenfunkte. Doch eines musste man ihm lassen: Er verstand etwas von seiner Arbeit.
Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck schälte sich der Chef der Spurensicherung aus seinem Neoprenanzug, während er mit Tarek sprach.
Weyn, der diesen Teil seines Jobs am meisten hasste, hielt sich dezent im Hintergrund, während Tarek und Johnsen neugierig die Nasen vorstreckten. Blitzlichter flammten auf, als die Leiche von verschiedenen Seiten fotografiert wurde. Björn zog vorsichtig hier und da an den Kleiderresten, während Tarek mit monotoner Stimme den Fund dokumentierte. Die blonden, langen Haare waren wild zerzaust und voller Blattwerk, kleiner Äste, Dreck und Köcherlarven. Sie trieb wohl erst seit kurzem im Wasser, denn sie war nur minimal aufgequollen, was Johnsen dankbar zur Kenntnis nahm. Er beobachtete verwundert, wie der sonst so emotionslose Björn eine ungewöhnlich zärtliches Verhalten an den Tag legte. Der Spurensicherer beugte sich noch einmal über die Trage. Sah er da eine Träne in Björns Augenwinkel schimmern?
Für Johnsen stand fest: Junges Mädchen, ihm unbekannt, altersmäßig irgendwo zwischen fünfzehn und achtzehn anzusiedeln. Schlanke, einst sicherlich sehr hübsche Gestalt, die von unzähligen Hämatomen und Wunden verunstaltet war. Den Blick in ihre Augen konnte er nicht vermeiden, hielt ihn jedoch so kurz wie möglich. Wie so oft, standen auch ihre Augen weit offen.
Der Spurensicherer stapfte zu einem Kollegen und sprach leise mit ihm. Johnsen runzelte die Stirn. Er kannte Björn bereits seit vielen Jahren, doch selten hatte er ihn so seltsam erlebt. Irgendetwas musste ihn verstört haben. War es die Kälte, das ekelhafte Wetter, die Erkenntnis, wie jung das Opfer noch war? Vermutlich die Kombination all dessen. Doch was auch immer dem Zwerg mit dem spärlich behaarten Schopf aufs Gemüt schlug, Johnsen würde es noch früh genug erfahren.
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