Es war nun fast ein ganzes Jahr her, seit er den Fall des Verschollenen von Lomsdal-Visten gelöst hatte. Er hatte seitdem immer wieder an diese Zeit zurückdenken müssen und sich auch mit Weyn, seinem Kollegen, des Öfteren über den Fall unterhalten. Es war schon eine besonders ausgefallene Geschichte, die sie damals erlebt hatten, kein Wunder also, dass sie in Erinnerung geblieben war. Doch nicht das allein war der Grund dafür, noch immer tagtäglich an diese Zeit zurückzudenken. Er hatte versucht, den Fall auch gedanklich abzuschließen, und sich eingeredet, dass er niemanden der damals Involvierten jemals wieder treffen würde. Welch ein Irrtum.
Es war gestern, am Sonntag gewesen.
Johnsen sah sie nur zufällig, als er in seinem Stammcafé saß und seinen Morgenkaffee trank. Er war gerade dabei, den Leitartikel zu lesen, als ihn eine Bewegung im Hintergrund aufsehen ließ. Die Zeitung glitt in seinen Schoß. Eine Seite fiel zu Boden, doch er bemerkte es nicht. Die Frau auf der anderen Straßenseite hielt seinen Blick gefangen. Es bestanden nicht einmal für ein Sekundenbruchteil Zweifel daran, dass nur s ie es sein konnte. Sie hatte sich im Laufe des letzten Jahres kein Stück verändert. Was auch zu schade gewesen wäre, schoss ihm unwillkürlich durch den Kopf.
Aus einem ihm unerklärlichen Reflex schnellten seine Hände plötzlich nach oben und wie ein Spion in einem alten James Bond Film versteckte er sich hinter der Zeitung. Und genau wie so ein Spion linste er über ihren Rand hinweg. Beobachtete, wie sie geradewegs auf der Kante seiner Morgenzeitung entlangmarschierte. Die Tischnachbarn begannen hinter vorgehaltenen Händen über ihn zu tuscheln. Er reagierte nicht darauf. Alles um ihn herum war mit einem Mal unwichtig und unwirklich.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn wahrgenommen hatte, war denkbar gering. Hoffentlich hatte sie ihn nicht gesehen!
Er beobachtete, wie sie ein Handy ans Ohr presste und den Blick auf den Boden vor sich geheftet hielt. Ihre raschen Schritte ließen ihre nachtschwarze Lockenpracht gleichmäßig auf und ab wippen.
Sie war zu weit entfernt, als dass er ihre Stimme hätte hören können, nur einmal schallte ein freudiges Lachen herüber. Johnsen ertappte sich dabei, dass er verstohlen Ausschau nach einer etwaigen Begleitung hielt.
Sie war allein und einen Augenblick später auch schon um die nächste Ecke verschwunden. Ratlos blickte er auf die Hausecke, als hoffte er, dass sie dort wieder auftauchte. Leises Getuschel drang an seine Ohren, machte ihm bewusst, wie peinlich sein Verhalten gerade gewesen war. Verstohlen griff er nach seiner Tasse, doch der Kaffee hatte jeglichen Geschmack verloren.
Er bezahlte und verließ das Café. Die Norwegen Post ließ er, entgegen seiner Gewohnheit, nahezu ungelesen auf seinem Stuhl zurück. Er hatte sie schlichtweg vergessen. Einem Drang folgend, der keinen Widerstand duldete, nahm er die Verfolgung auf.
Am Ende der Gasse blieb er abrupt stehen.
Was tat er da eigentlich? Was und vor allem: warum? Wenn er sie jetzt tatsächlich einholte, was würde er dann zu ihr sagen?
„Hi Janina, vielleicht erinnerst du dich an mich, ich bin der Kommissar, der letztes Jahr den Betrug aufgedeckt hat, in den dein Freund verwickelt war.“ Schwachsinn.
Er drehte um. Freund oder Exfreund?
Vielleicht war es das, was er wissen wollte.
Der Vorfall hatte sich gestern ereignet. Seitdem war er zu keiner vernünftigen Tätigkeit mehr in der Lage. Dann war auch noch dieser alles Gute wegwaschende Regen dazugekommen. Und dieser Fernseher. Johnsen liebäugelte schon länger mit dem Gedanken, das Ding zu verschenken, da er ohnehin nur selten von ihm Gebrauch machte. Ausgerechnet heute, wo er sich ausnahmsweise einmal gern berieseln lassen wollte, gab es nichts nach seinem Geschmack! Nur Promis, Kommerz, Dreck und Dramen.
Blöde Kiste, ich werf sie doch raus, brummte er vor sich hin, während er zurückging. Der Nieselregen war kaum noch spürbar. Johnsen hatte den Eindruck, dass sich sogar die massive Wolkendecke ein wenig gelichtet hatte.
Wie im Karussell kreisten seine Gedanken wieder zurück, es gelang es ihm nicht einmal, sich ausreichend über den Fernseher zu ärgern, um sich damit von dieser Frau abzulenken.
Eine kurze Bewegung an seiner Brust ließ ihn plötzlich zusammenzucken. Jetzt schaltete sich also auch noch ein vertrautes Geräusch hinzu, das gedämpft aus seiner Innentasche kam. Hastig öffnete er die Knöpfe seines Mantels, griff hinein und nahm den eingehenden Anruf entgegen, bevor sich die Melodie von Yellowsubmarine der Beatles vollends entfalten konnte.
Der Grund für seine hektischen Bewegungen war weniger, dass er einen dringenden Anruf erwartete; er konnte dieses Lied schlichtweg nicht mehr hören. Ein rascher Blick auf das Display zeigte ihm die Nummer seines Kollegen Thor Weyn.
Nach Feierabend.
Bei dem Sauwetter.
Wo er doch gerade so schön am Nachdenken war.
Ein Gefühl der Freude wallte in ihm hoch. Perfekt!
„Ja, Thor, was gibt‘s?“, meldete er sich rasch und eine Spur zu fröhlich.
„Hei Jørn“, antwortete der Kollege verhalten. Johnsen konnte sich das Gesicht mit der fragend gerunzelten Stirn seines Kollegen bildhaft vorstellen.
„Einen neuen Fall gibt es.“
Johnsen war ganz Ohr. Ein neuer Fall bedeutete Arbeit, Ablenkung. Sehr gut.
„Na dann schieß mal los!“
Das ließ sich Weyn nicht zweimal sagen. Mit den Ausführungen wurde das Gesicht des Kommissars immer ernster. Seine gute Stimmung hatte gerade einmal zwei Sekunden angehalten und war nun, nach so kurzer Zeit, wieder wie weggeblasen.
Johnsen entging, dass er wegen seines geöffneten Mantels von oben bis unten klatschnass wurde, da der Regen ohne Vorwarnung wieder stärker geworden war. Es schüttete wie aus Kübeln. Von wegen Auflockerung.
Der Kommissar stand erstarrt in einer immer größer werdenden Pfütze und lauschte aufmerksam, während ihm ein Schauder wie ein Wasserfall den Rücken hinunterlief.
Björn, der Abteilungsleiter der Spurensicherung, war voll und ganz in seinem Element. Ohne sich von der klirrenden Kälte des Wassers aufhalten zu lassen, schob er sich zielstrebig wie ein Roboter durch den Fluss. Keuchend und mit erhobenen Armen schaufelte er sich auf das Baumskelett zu. Johnsen empfand tiefen Respekt vor dieser Leistung. Er wusste aus eigener blaugefrorener Erfahrung, dass der Schutzanzug, den der Spurensicherer trug, nicht viel mehr brachte, als seinen Träger gerade so vor dem Erfrierungstod zu bewahren.
Die Strömung zog mit aller Kraft erbarmungslos und ohne Unterlass an Björns Beinen. Ein Seil war an seinem Anzug befestigt, das ihn davor bewahrte, abgetrieben zu werden, sollte ihm die Kraft schwinden. Sich von der Brücke aus mit der Strömung treiben zu lassen, war ein Leichtes gewesen, doch da der Bewuchs an den Uferseiten und das Geäst des toten Baumes hinderlich waren, musste er sich nun quer durch den Fluss einige Meter zu der Stelle vorkämpfen, an der sich etwas beziehungsweise jemand verfangen hatte.
Die Sicherung erfolgte von der Brücke aus, unter deren Rändern eine Reihe Eiszapfen hing.
Johnsens Blick schweifte über die anwesenden Leute, die auf der Brücke zugange waren. Er sah gerade in dem Moment zurück zu Björn, als dieser auf einem glitschigen Untergrund ausrutschte. Ihm wurde durch den Sog des Wassers buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen. Erschrockene Rufe hallten über den Fluss.
Johnsen unterdrückte den Schrei, der auch seiner Kehle entfliehen wollte und lief zum Geländer. Seine Finger umfassten das feuchte Holz so fest, dass das Weiße seiner Fingerknöchel zu sehen war. Unfähig zu helfen, war er gezwungen, zuzusehen, wie sich die Kollegen beratschlagten und hastig an der Sicherung hantierten. Gebannt beobachtete er das Geschehen. Er hatte großen Respekt vor den Fähigkeiten der Bergrettung, doch warum hatten sie zugelassen, dass dieser kleine Trottel allein in dem Fluss herumschwamm? Er wandte sich an den Leiter und wollte ihm gerade diese Frage in einer nicht viel freundlicheren Version an den Kopf klatschen, als ein zorniger Aufschrei alle Gespräche verstummen ließ. Der hochrote Kopf des Spurensicherers war wieder aus den Fluten aufgetaucht und in demselben Augenblick, in dem er wieder genügend Sauerstoff bekam, erscholl eine Schimpftirade, wie sie der Wald noch nie gehört hatte.
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