Sie lächelte bei dem Gedanken daran, wie sie am Abschlussball den Jungs die Köpfe verdrehen und die blöden Zicken aus ihrem Jahrgang vor Neid erblassen lassen würde. Doch das war nur Spaß, denn ihr Herz schlug einzig und allein für einen bestimmten Mann. Sie würde aufs Ganze gehen, ihn als Tanzpartner wählen und sich an ihn ranschmeißen, dass ihm Hören und Sehen verging! Er sollte endlich seine bescheuerte Ex vergessen und seine Aufmerksamkeit jemandem widmen, der sie verdiente.
Nelly holte tief Luft und legte noch einen Zahn zu. Das Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Schnell wie der Wind sauste sie den schmalen Pfad entlang und wich spielerisch den auf dem Weg liegenden Steinen aus. Die Sonne stand hoch am Himmel und die Vögel besangen voller Inbrunst diesen warmen Frühlingstag.
Sie fragte sich, wie lange sie diesmal für ihre Route brauchen würde. Ihr Atem ging bereits nach dieser kurzen Strecke stoßweise. Sie spornte sich an.
Sie wollte die angenehme Gelegenheit nutzen, einfach heimkommen zu können, wenn es ihr passte. Ohne ihre Eltern anrufen zu müssen, die trotz ihrer Volljährigkeit immer noch auf diese nervtötende Überwachung bestanden. Sie war ein Einzelkind und stets behütet worden wie ein Augapfel. Nun waren ihre Eltern für eine Woche verreist, um ihre Tante zu besuchen. Ein Besuch, der ihr – zu ihrer Erleichterung – erspart geblieben war. Sie hatte die beste Ausrede der Welt: Abschlussprüfungen. Das hatte ihr bei der Abreise der Eltern einen neidischen Blick ihres Vaters eingebracht. Er tat ihr leid. Mutter konnte gnadenlos sein. Nelly hatte ihm ins Ohr geflüstert, dass sie sich auf Sonntagabend freue und er hatte sie gequält angelächelt, als er daran erinnert wurde, wie weit er von seiner Erlösung entfernt war.
Sie erreichte die Drevja und anstatt über die hölzerne Brücke zu laufen, entschied sie spontan, den natürlichen Weg zu nehmen. Es machte doch viel mehr Spaß, von Stein zu Stein zu hüpfen, um ans andere Ufer des Flusses zu gelangen! Sie rutschte die kurze Böschung hinunter und peilte den ersten großen Trittstein an. Die Entfernung abschätzend nahm sie Anlauf und sprang. Sie landete geschickt auf dem rauen Felsen und drehte sich um. So ein schöner Tag war das heute! Das Gurgeln des Baches und das leise Piepen der Meisen waren die einzigen Geräusche, die sie wahrnahm. Keine Menschenseele weit und breit, niemand war zu hören, niemand zu sehen.
Der nächste Hüpfer gelang ebenfalls problemlos und elegant. Gerade, als sie sich hinunterbeugen und einen schönen Quarz aus dem Wasser fischen wollte, glaubte sie, doch etwas zu hören, das aus dem Rahmen der typischen Waldgeräusche fiel. War es ein Rascheln, ein Stöhnen oder etwas anderes gewesen? Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in ihrer Magengegend aus. Es war das Gefühl, beobachtet zu werden, das sie verleitete, sich aufzurichten und aufmerksam umzusehen.
Sie suchte den Waldrand ab, konnte jedoch niemanden entdecken. Wahrscheinlich, dachte sie, bekam sie nun doch die Auswirkungen der großen Anspannung von heute Vormittag zu spüren. Also schob sie ihre Beklemmung achselzuckend auf den Prüfungsstress und duckte sich, um zum nächsten Felsen zu springen, als sie erneut ein Geräusch hinter sich hörte, das sie aus ihrer Konzentration riss. Sie ruderte hektisch mit den Armen, um ihre Balance wiederzuerlangen, als sie auf einer glitschigen Stelle ausrutschte und hinunterzufallen drohte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen und sie kämpfte heftig um ihr Gleichgewicht. Als sie endlich wieder stabil stand, atmete sie auf. Ihr Herz wollte aus ihrer Brust springen und das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie verharrte noch einen Wimpernschlag, bis sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigt hatte und wandte sich erneut um, sicher, dieses Mal etwas zu sehen, doch auch jetzt wirkte alles harmlos. Nicht einmal das Wackeln eines Zweiges verriet ihr, woher das Geräusch gekommen war.
Sie schalt sich als hysterisch. Sie befand sich in einem Wald, und natürlich lebten hier Vögel und Säugetiere. Wahrscheinlich war es nur ein Eichhörnchen, dass ein paar Zapfen vom Baum geworfen hatte. Sie drehte sich wieder um und versuchte sich zu sammeln. Es war wichtig, beim nächsten Sprung zu vermeiden, auf den moosigen, nassen Flecken zu landen, wenn sie sich keine nasse Hose holen wollte.
Das Kunststück gelang. Sie behielt ihre trockenen Füße und nach zwei weiteren Sätzen hatte sie etwa die Mitte des Flussbettes erreicht. In der starken Strömung zu ihren Füßen schwammen kleinere Äste, die wild auf den Wellen auf und ab hüpften. Nelly starrte wie gebannt auf das Wasser. Die Zweiglein wurden von kleinen Strudeln nach unten gezogen und tauchten manchmal erst einige Meter flussabwärts wieder auf. Sie entdeckte einen Käfer, der darum kämpfte, auf einen Stein zu klettern. Immer wieder verloren seine kleinen Füßchen den Halt. Er wirkte erschöpft, als wäre er bereits viele Male gescheitert. Als er es endlich schaffte, sich hochzuziehen, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht.
Nelly musste ihren Blick von der hypnotisierenden Wasseroberfläche regelrecht losreißen, bevor sie den nächsten Trittstein anvisieren konnte. Sie breitete seitlich die Arme aus, um ihr Gleichgewicht besser halten zu können.
Da krachte es hinter ihr.
Sie erschrak, riss die Arme nach oben und wankte bedrohlich. Mit einem ausgestreckten Bein gelang ihr das Unglaubliche. Mit zitternden Gliedern und äußerster Vorsicht balancierte sie herum, hob erst, als sie ihre Endposition erreicht hatte, den Kopf und erstarrte.
Sie öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus.
Das andere Ufer der Drevja sollte die junge Frau niemals erreichen.
Oh, da war ja noch mehr Frauenmantel!
Die alte Frau mit den unzähligen Falten im Gesicht hatte trotz ihrer schlechten Augen ein Büschel samtiger Blätter erspäht. Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn, dachte sie schmunzelnd, als sie darauf zusteuerte.
Sie strich sich eine der silbrigweißen Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatte und sie am Kinn kitzelte. Wenn sie ihre Haare offen trug, reichten sie bis zur Hüfte hinunter. Das immer noch kräftige Haar war ihr großer Stolz. Andere Frauen hatten mit Mitte sechzig bereits kahle Stellen, während bei ihr noch immer ein dichter Schopf wuchs. Anstatt die ersten grauen Kandidaten zu färben, hatte sie sie gelassen, wie sie waren, und den gelegentlichen Spott der eitlen Damen ignoriert, die jetzt mit Neid auf ihre weiße Mähne blickten.
„Ich bin noch ziemlich fit für mein Alter!“, sagte sie ohne Bescheidenheit zu dem Blätterbüschel in ihrer Hand, bevor sie es in ihren Leinenbeutel stopfte. Dass die Hälfte davon an der Öffnung vorbei zu Boden glitt, bemerkte sie ebenso wenig, wie die Tatsache, dass sich einige welke Blätter in ihre Kräutersammlung eingeschlichen hatten. Sie stützte sich mit ihrer kräftigen Hand am Stamm einer der vielen Birken dieses Waldes ab und kam mit knackenden Knien wieder in die Höhe. Dabei unterdrückte sie ein Stöhnen.
„Au, blöde Knie!“, schimpfte sie, während sie weiter durch das Unterholz tappte. Nach ein paar Schritten lag ein toter Baum quer über ihrem Weg. Als sie darüber hinwegstieg, knackte es schon wieder in ihren Gelenken.
„Hey, Hüfte, zick du nicht auch noch rum!“, maßregelte sie den nächsten und nicht mehr ganz so jugendlichen Teil ihres Körpers. Es tat gut, ungehört ihrem Ärger über die vielen kleinen Leiden Luft machen zu können. Nur über das Treppensteigen konnte sie sich im Wald schwerlich auslassen.
Doch solange sie noch laufen konnte, würde nichts und niemand sie davon abhalten, sich jeden Tag, an dem es das Wetter auch nur annähernd zuließ, zu einem Waldausflug aufzumachen.
Heute war sie allein unterwegs. Ihren Mann, mit dem sie seit bald vierzig Jahren zusammen war, hatte sie daheim gelassen. Der Alte wollte die Regenrinne reparieren, bevor der erneut angekündigte Regen in den nächsten Tagen dieses Vorhaben vereiteln konnte. Die Pfütze vor dem Haus war bereits groß genug. Noch zwei Tage Regen mit defekter Rinne und die ersten Enten würden in dem Weiher vor ihrer Haustür landen.
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