Hast schon recht, aber jetzt reicht‘s, dachte Johnson und drückte genervt auf der Fernbedienung herum. Das blasse Antlitz des Psychologen mit der schwarz gerahmten Brille verschwand. Glücklicherweise noch bevor er mit erhobenem Finger seine nächste Weisheit verkünden konnte. Es war Johnsen ein Rätsel, wie man diesem neunmalklugen Kerl länger als zehn Sekunden ernsthaft zuhören konnte. Mit dem Daumen auf der Fernbedienung fragte Johnson sich unwillkürlich, ob dieser Studierte seine ungesunde Gesichtsfarbe schon länger hatte oder ob ihn seine eigenen Erkenntnisse erblassen ließen. Allzu viel Sonne bekam er jedenfalls nicht ab.
Außerdem ist mir das zu viel Wahrheit, das kann ich im Moment weniger gebrauchen, dachte er missmutig, nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche, die er neben sich auf den Couchtisch gestellt hatte, und schaltete zum nächsten Sender. Der Bildschirm flimmerte auf und ab, die Ziffern zählten immer höher, bis er wieder beim ersten Programm ankam.
„Auch Sie haben einen Waschbrettbauch, ob Sie es glauben oder nicht! Sie müssen ihn nur befreien. Bleiben Sie dran und erfahren Sie, wie sie ihn hervorlocken können …“
Johnsen grunzte und zappte weiter.
„Der Klimawandel nimmt immer drastischere Gestalt an. Wetterexperten warnen vor zunehmenden Katastrophen, die vor allem die Ärmsten der Armen treffen werden. Wenn wir alle nicht sofort unseren Lebensstil verändern, sieht die Zukunft schwarz für unseren Planeten aus. Wir …“
Johnsen hatte unwillkürlich zu dem genickt, was der Umweltaktivist in der grünen Jacke gesagt hatte, doch auch wenn er ganz seiner Meinung war, wollte er jetzt keine Dramen! Weder hören und schon gar nicht bildreich untermalt sehen. Der Verweis auf den Waschbrettbauch eben war hart genug gewesen, dachte er mit leisem Sarkasmus. Zumindest von Weltuntergangsszenarien oder ähnlich dramatischen Themen, die seine ohnehin getrübte Stimmung noch weiter in den Keller rauschen ließen, wollte er verschont bleiben. Eine harmlose Ablenkung, war das denn zu viel verlangt?
Der nächste Kanal zeigte eine Zeichentricksendung, der übernächste eine Nachkriegsdokumentation und der darauffolgende war ein Shopping-Kanal, in dem irgendwelche unbezahlbaren Brillis angeboten wurden. Auch nicht gerade das, wonach er suchte. Für einen Moment erwog er ernsthaft den Gedanken, zurück zu Tom und Jerry zu schalten, drückte dann jedoch auf off.
Der Bildschirm wurde dunkel. Das Prasseln gegen die Wohnzimmerfensterscheibe teilte ihm unüberhörbar mit, dass es noch immer in Strömen regnete.
Seufzend ließ Johnsen den Blick durch den Raum wandern. Auf der Sofalehne hing ein getragenes Hemd von gestern, am Boden lagen die Krümel seines letzten (oder vorletzten?) Abendbrotes und der Schreibtisch quoll über vor unerledigtem Papierkram.
Das Wort „aufräumen“ hallte schrill in seinen Ohren, die Stimme, die ihm das in vorwurfsvollem Ton nahelegte, klang verdächtig nach der seiner Mutter – Gott hab sie selig.
Er war erwachsen, seine Mutter konnte ihm schon lange keine Vorschriften mehr machen. Johnsen stand auf, ging zur Garderobe, streifte seinen Mantel über, schlüpfte in die Schuhe, schnappte sich den Schlüssel und verließ die Wohnung. Nicht hastig, aber er hatte es definitiv eilig.
Trotz der eigentlich milden Temperaturen in diesem Mai begann er augenblicklich zu frieren, als er in die Freiluftdusche hinaustrat. Dieser vermaledeite Regen wollte und wollte einfach nicht nachlassen. Johnsen vermisste seinen Schirm, doch er war zu faul, umzukehren. Als Alternativmaßnahme schlug er den Kragen hoch und zog den Kopf ein. Seine kalten Hände in die Manteltaschen gestopft, schritt er rasch aus. Er hatte kein bestimmtes Ziel und ließ seine Beine einfach draufloslaufen, sie würden den richtigen Weg auch ohne sein bewusstes Lenken finden. Wie immer, wenn er das tat, trugen sie ihn zuverlässig an den beschaulichen kleinen Hafen von Mosjøen. Auf dem Pier blieb er stehen und blickte gedankenverloren auf das Wasser, in das Regentropfen beharrlich kleine Kreise auf die dunkle Wasseroberfläche malten.
Seine Gedanken schwammen im Regen umher wie ein Blatt auf dem Fluss und strandeten bei der Frage, ob er mit seinem Leben glücklich sei. Zufrieden war er im Grunde. Ja. Er war gesund, konnte gut leben. Grob gesagt mangelte es ihm an nichts.
Und dennoch. Dennoch fehlte ihm etwas gewaltig. Etwas, das er sich von keinem Geld der Welt kaufen konnte. Etwas, von dem er keine Ahnung hatte, wie er es bewerkstelligen könnte, es zu bekommen.
Jørn war gern allein, wenn er nach Dienstschluss oder an freien Tagen mit seiner Freja hinausfuhr. Er genoss die Stille, wenn er sich mit dem Fernglas bewaffnet in den Lomsdal-Visten-Nationalpark aufmachte. Dort in aller Einsamkeit Tiere zu beobachten, beispielsweise einen der wenigen Raufußbussarde zu erspähen, die kleiner und struppiger als gewöhnliche Bussarde waren und ihm gerade deshalb und wegen ihres angegrauten Gefieders so gut gefielen, diese Dinge machten ihn zu einem reichen Mann.
Wenn er nach einem solchen Tag – oder zwei, wenn er in einer der Bergvereinshütten übernachtete – nach Hause zurückkehrte, überkam ihn mitunter ein Gefühl der Beklemmung. Wäre es nicht viel schöner, all das mit jemandem teilen zu können? Mit jemandem, der ihn verstand und mit dem er seine Liebe zur Natur, zu allem, was ihn dort draußen umgab, teilen konnte? Der wusste, welche Pflanzen hier wuchsen, welcher Vogel über ihm flog, und der auf größeren Komfort verzichten konnte und mit ihm ein bescheidenes Leben führen wollte?
Eine Windböe fegte über die Straße und ließ eine weggeworfene Dose scheppernd in den Rinnstein kullern. Das Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Ein wenig verloren stand er am Pier und starrte die Dose an, wie sie hin und her geweht wurde und schließlich in einer braunen Pfütze liegen blieb.
Seine Gedanken wanderten boomerangartig zurück zu sich und der Lücke in seinem Leben. Eine Frau. Er wollte nicht länger allein sein, nicht einsam altern und irgendwann von einem besorgten Nachbarn entdeckt werden, weil dem ein unangenehmer Geruch in der Wohnung nebenan aufgefallen ist.
Wieder einmal kam ihm eine bestimmte Frau in den Sinn. Sie. Ausgerechnet. Die sollte er sich endlich aus dem Kopf schlagen. Es gab noch andere.
Im entfuhr ein Seufzer.
Der Markt war dürftig. Natürlich gab es auch hier ein paar Kandidatinnen, die noch nicht vergeben waren. Die dürre Kassiererin mit den hervorstehenden Zähnen und den strähnigen Haaren zum Beispiel. Hm, sehr anregend. Oder die beinahe hübsche Blondine aus dem Supermarkt. Zweitere hatte durchaus Interesse an ihm gezeigt, doch in einer derart aufdringlichen Art und Weise, dass Jørn schnell Reißaus genommen hatte und seitdem beim Einkaufen im europris stets auf der Hut vor ihr war. Sie zur Verehrerin zu haben, war nicht gerade praktisch, wenn man bedachte, dass es nur einen größeren Laden im Ort gab …
„Jaja, man kann eben nicht alles im Leben haben …“, grummelte er in seinen Mantelkragen und schlurfte weiter an der Hafenmauer entlang.
Es prasselte unerbittlich auf ihn nieder. Seltsamerweise störte ihn der Guss kaum noch.
Er blieb stehen, stemmte sich gegen das unwirtliche Wetter und versuchte zu verstehen, was in ihm vorging, was er ändern musste, was er tun konnte, um dieses Loch in seinem Inneren zu füllen.
Die Zeit verrann plätschernd im Fjord. Johnsen merkte, dass seine Kleidung durchlässig wurde. Die dadurch einsetzende Kälte ließ ihn wieder frösteln. Doch sie hatte auch etwas Gutes, denn sie schaffte Klarheit in seinem wirren Geist. Als würde der Regen sich seinem Strudel aus Fragen und Gedankenspielen anpassen, wurden die Kreise auf dem Wasser allmählich kleiner. Der kräftige Guss von oben verwandelte sich in ein zaghaftes Tröpfeln. Die Kreise auf dem Gewässer bildeten sich immer langsamer.
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