Weyn warf lange Blicke auf den Körper, bis Tarek Johnsen zunickte.
Trotz aller Berufserfahrung spürte Johnsen einen Stich des Bedauerns beim Anblick dieser blutjungen Frau. Und er war sich sicher, dass es Weyn, Vater zweier Kinder, nicht besser erging.
Auf Johnsens Wink hin packten zwei Helfer der Spurensicherung den Körper in silberne Rettungsdecken ein, sodass er auf der Bahre fixiert und über den steinigen Pfad hinunter zur Straße gebracht werden konnte. Als zwei Männer gerade das Gesicht der Toten mit der Plane bedecken wollten, hob Björn die Hand.
Seine wie in Stein gemeißelte Miene wurde weich, als er sich mit zitternden Händen im Schlamm niederkniete und mit der behandschuhten Hand ein paar der verirrten weizenblonden Strähnen hinter das wächserne Ohr klemmte. Beim Zurückziehen der Hand strich er wie zufällig über die elfenbeinfarbene Wange und drückte vorsichtig die Lider der blicklosen Augen nach unten.
Dann zog er ihr selbst die Plane über das Gesicht. Immer noch im feuchten Dreck kniend, den Parka um den bibbernden Leib geschlungen, verharrte Björn in seiner Position. Niemand wagte es, sich zu rühren. Seine beiden Teammitglieder, die drei Mitglieder der Bergrettungsmannschaft und auch Weyn wurden unruhig und warfen fragende Blicke zu Johnsen herüber, der sich das Verhalten des Spurensicherers selbst nicht erklären konnte.
Johnsen wartete noch einen Moment, in dem nichts geschah, außer dass der Regen auch das letzte Stückchen trockener Haut erreichte. Dann gab er zwei Männern einen Wink, die sich daraufhin erleichtert nach der Bahre bückten und die silberfarbene Rolle auf die Schulter nahmen.
Unwillkürlich fühlte sich Johnsen bei diesem Anblick an einen überdimensionalen Dürüm erinnert. Erschreckend, welche anstandslosen Verknüpfungen das menschliche Gehirn manchmal herstellte, dachte er kopfschüttelnd.
Er legte tröstend eine Hand auf Björns Schulter und zog sie verwundert wieder zurück, als diese zu beben begann. Der kleine Mann stand rasch auf und übernahm, ohne auch nur ein weiteres Wort mit irgendjemandem zu wechseln, die Spitze des traurigen Zuges. Die Bergrettung und die Spurensicherung fungierten als eingespieltes Team. Effektiv und routiniert machten sie sich daran, ihre Fracht den nicht ganz leichten Weg hinunter zur Straße zu befördern. Und obwohl es niemand aussprach, war die Dankbarkeit aller nahezu spürbar, sich nun endlich auf schnellstem Weg zurück ins Trockene machen zu können.
Es lag noch ein halber Kilometer Fußmarsch nach Holandsvika vor ihnen, bevor sie sich in den Sprinter setzen, die Heizung aufdrehen und wieder Gefühl in den eisigen Gliedern bekommen würden. So hart die Norweger auch im Nehmen waren, irgendwann dachten auch sie an nichts anderes mehr als an warmen Tee, heiße Schokolade und allem voran trockene Socken.
Eine knappe halbe Stunde später waren alle in den Wägen untergebracht und nach einer weiteren lag die Leiche auch schon in Mosjøens Kühlkammer.
Als Johnsen zur Tür hereinkam und in das Gesicht des Spurensicherers blickte, erschrak er. Obwohl Björns Lippen die bläuliche Farbe verloren hatten und er seine Kleidung gewechselt und die Glatze trockengerubbelt hatte, sah er um zehn Jahre gealtert aus. Johnsen begann sich ernsthafte Sorgen zu machen. War die Zeit im kalten Wasser zu lang gewesen? Hatte er sich ernsthaft unterkühlt?
Björn hatte sich mit einer dampfenden Tasse, die einen verführerischen Kaffeeduft verströmte, an seinen Schreibtisch gesetzt. Trotz der unangenehmen Situation ließ der Duft Johnsen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie lange es her war, dass er seine letzte Tasse Kaffee oder irgendetwas anderes getrunken hatte. Wann hatte er überdies zuletzt etwas gegessen? Wie auf Kommando knurrte sein Magen vernehmlich. Außer der einen Flasche Bier, die er abends vor dem Fernseher geleert hatte, hatte er seit dem Mittagessen weder etwas Festes noch etwas Flüssiges zwischen die Kiemen bekommen. Die Müdigkeit, die er verspürte, trug auch ihren Teil dazu bei, dass er den Feierabend herbeisehnte. Mitternacht war überschritten und ein Polizist, der müde war, war nicht voll einsatzfähig.
Er schob seine eigenen Bedürfnisse beiseite. Zuerst galt es, sich um seinen alten Kumpel Björn zu kümmern. Wenn das erledigt war … zu Hause hatte er noch eine feine Pfanne Fischkuchen mit Gemüse …
Johnsen schluckte seinen Speichel hinunter.
„Hat sich dein Bad rentiert?“, versuchte er dem jämmerlich in seine Kaffeetasse blickenden Häufchen Elend ein wenig Stimmung einzuhämmern.
Der schaute träge auf und wies wortlos auf einen freien Stuhl.
Johnsen setzte sich.
„Ja, ich bin sauber geworden“, meinte er säuerlich, um dann hinzuzufügen: „Mein Kram ist im Labor und für die Details über die Todesursache musst du bitte das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung abwarten.“
Björn ließ einen Moment verstreichen, dann seufzte er und hob erneut zu sprechen an.
„Ich kann im Endeffekt nur das sagen, was du wahrscheinlich bereits mit eigenen Augen gesehen hast: Junges Mädchen, achtzehn Jahre alt. Der Körper ist ziemlich zugerichtet, wobei ich nicht sagen kann, ob und wie viele der Verletzungen von dem … quasi dem Fundort … stammen, du weißt, was ich meine.“
Johnsen nickte. Der Baum, die Strömung, die Steine, gegen die der Körper wieder und wieder gestoßen war, als das hatte ihn schlimm zugerichtet.
„Das Genick ist jedenfalls gebrochen, aber ob das die Todesursache ist oder eine der vielen anderen Verletzungen und ob und welche davon ihr eventuell vorher zugefügt worden sind, lässt sich auf die Schnelle nicht feststellen. Insgesamt gibt es mehrere tödliche Verletzungen … du kriegst morgen dann den Bericht.“
„Ich weiß, ich habe bereits mit Tarek gesprochen“, entgegnete Johnsen, der sich über dieses für Björn untypische Gestammel wunderte.
Björn verstummte wieder und sank noch ein Stück weiter in sich zusammen. Johnsen runzelte die Stirn, doch noch bevor er den Mund öffnen konnte, regte Björn sich wieder.
„Wir fanden außer ein paar Kleinigkeiten in den Hosentaschen keinerlei Gegenstände bei ihr, wobei durch die Strömung natürlich auch etwas weggespült worden sein könnte.“ Er zuckte die Achseln. „Nichts Besonderes, nur ein Labello, ein nahezu völlig aufgelöstes Taschentuch und irgendein ausgewaschener Zettel, der wohl mal mit Kugelschreiber beschrieben worden war, jetzt jedoch absolut unbrauchbar ist.“
„Und das Zeug, das du in den Sack gesteckt hast?“
Björn hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und schaute frustriert in seine Kaffeetasse, die er nach wie vor mit beiden Händen umklammert hielt.
„Fehlanzeige.“
Johnsen legte die Hände auf den Tisch und stemmte sich hoch.
„Gute Arbeit, Björn. Du solltest besser für heute Feierabend machen. Wärm dich anständig auf, damit du dir keine Erkältung holst.“ Er lächelte ihm aufmunternd zu. „Wir können es uns nicht leisten, auf unsere Nase und unsere scharfen Augen zu verzichten.“
Björn schnaubte.
Himmel, was war denn mit dem los? Johnsen hatte jetzt langsam wirklich die Nase voll, er wollte endlich etwas in den Magen kriegen, ein Bier und dann in die Falle! Er bemühte sich noch ein letztes Mal.
„Weyn ist bereits heimgefahren und für dich wird es auch Zeit. Es war für uns alle ein anstrengender Tag.“ Er schob den Stuhl zurück und wandte sich zum Gehen. Doch die Stille im Raum hinderte ihn daran, die Tür zu öffnen. Er drehte sich wieder um.
Björn hatte sich keinen Millimeter gerührt. Er saß da wie eine kalte Marmorstatue.
Johnsen seufzte innerlich, ging zurück, stützte sich auf die Stuhllehne und beugte sich vor.
„Die Ermittlungen bezüglich der Identität und alles Weitere kann bis morgen warten. Heute können wir nicht mehr tun.“ Er merkte, dass seine Worte an Björn abprallten. Allmählich war er mit seinem Latein am Ende.
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