„Björn, was …?“
„… so jung …“, unterbrach er ihn leise. Es klang beinahe wie ein Wimmern.
Jørn stutzte und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er vorsichtig.
Björn wird alt, dachte er. Vielleicht ist er auch nicht mehr so robust wie früher und so ein Eisbad ist nichts mehr für müde Knochen.
Johnsen zermarterte sich sein Hirn, ob Björn sich vielleicht einfach nur an seine Tochter erinnert fühlte. Hatte er nicht sogar zwei? Aber die waren doch schon älter, gewiss selbst bald Mütter …
„Meine Nichte“, unterbrach Björn die Gedanken des Kommissars, der verdutzt die Luft einsog. Verwirrt starrte er ihn über den Tisch hinweg an.
Fragend suchte er Björns Blick. Die Antwort, die er dort las, erschreckte ihn.
„Du meinst, dass das … ?“
Ein leises Schluchzen war die Reaktion.
Johnsen wagte wider besseres Wissen einen kläglichen Versuch, das Unfassbare abzuwehren.
„Björn, ist deine Nichte wirklich in dem Alter der jungen Frau aus der Drevja? Oder hat sie vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit? Die blonden, langen Haare …“
Die Schultern des zusammengesunkenen Mannes bebten. Ein Tropfen fiel in die Kaffeetasse. Nicht von den Haaren, denn die wenigen, die er noch besaß, waren inzwischen getrocknet.
„Sie war der fröhlichste Mensch, den ich kannte.“ Björns Stimme versagte.
Johnsen kam sich wie ein Vollidiot vor. Er war mit dieser Situation total überfordert, also tat er das Einzige, das ihm jetzt noch einfiel. Er ging um den Schreibtisch herum, beugte sich hinunter und nahm den völlig am Boden zerstörten Mann fest in den Arm.
Der ließ es geschehen. Schließlich erwiderte er die Umarmung und schluchzte haltlos in Johnsens Jackett.
Geraume Zeit war vergangen, als der Kommissar den Raum endgültig verließ. Nicht ein weiteres Wort war mehr gesprochen worden. Dennoch stand unverrückbar fest, dass Johnsen ein Versprechen gegeben hatte.
Er würde herausfinden, was mit dem Mädchen geschehen war.
Natürlich war das ohnehin sein Job, doch Björn zuliebe würde er alles dafür geben, den Fall lückenlos aufzuklären, und den Täter, falls es einen gab, seiner gerechten Strafe zuzuführen. So schnell es möglich war, auch wenn gerecht ein Wort war, an das niemand in ihrem Kollegenkreis noch wirklich glaubte. Das, was die Gerichte über Mörder und schlimmere Verbrecher verhängten, brachte den Angehörigen nur selten Genugtuung. Und den Menschen zurück brachte es ohnehin nicht.
Schicksale
Matthis war ein hübscher, schmalgesichtiger Junge mit dunkelbraunen, gekringelten Haaren, die ihm ein aufmüpfiges Aussehen verleihen würden, wären da nicht diese dunkelgrünen, verträumten Augen. Diese Augen verliehen dem Siebzehnjährigen einen interessanten Ausdruck. Sie ließen ihn, in Kombination mit seinem hellen Köpfchen, leicht zwei, drei Jahre älter wirken.
Matthis, den ein schrecklicher Unfall in seiner Kindheit zum Krüppel gemacht hatte. Trotz dieser widrigen Umstände war er zu einem lebensfrohen, hilfsbereiten und aufgeweckten Jungen herangewachsen.
Matthis fasste das Unglück damals mit der Logik eines Kindes auf. Er lernte zu akzeptieren, dass manche Dinge im Leben einfach so waren, wie sie eben waren. Da half kein Klagen. Man musste sich zusammenreißen und aus seiner Lage das Beste machen. Mit dieser Lebenseinstellung groß geworden, hatte Matthis viele Hürden im Leben genommen, wusste sich meist zu helfen oder die richtigen Menschen um Rat zu fragen. Doch nun saß Matthis da und wusste nicht mehr weiter.
Zum ersten Mal seit seinem Unfall fühlte er sich absolut überfordert. Wie von einem Zug überrollt. Der junge Mann stand kurz vor dem psychischen Zusammenbruch.
Es war wegen Nelly.
Nelly war seit Kindertagen seine beste Freundin gewesen – wenn es nicht so makaber klingen würde, könnte man auch sagen: von Kindesbeinen an . Ihre Freundschaft existierte bereits, als diese nutzlosen Anhängsel an seinem Rumpf noch funktionsfähig waren. Quasi seit er denken konnte, war sie da gewesen. Er für sie, sie für ihn, beide füreinander. Durch dick und dünn. Zu zweit gegen den Rest der Welt, wie auch immer man das nennen wollte.
Nelly war dabei gewesen, als er von diesem verflixten Dach fiel. Sie hatte versucht, ihm zu helfen und seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, während sie immer wieder seinen Namen und um Hilfe gerufen hatte. Mit zitternden Händen hatte sie seinen Kopf gestreichelt, während ihre Tränen auf sein blasses Gesicht getropft sind. Das hatte ihn aus seiner Ohnmacht geweckt.
Er hatte ihre kleinen Hände auf seinem Gesicht und auf seinem Kopf gefühlt, gesehen, wie sie nach seinen Beinen tastete, in denen er seltsamerweise überhaupt nichts spürte. Ihre Stimme hatte er nur verschwommen wahrgenommen und diese stetig herabfallenden Tropfen liefen schließlich auch über seine Wangen und vermischten sich mit seinen eigenen Tränen zu einem einzigen Rinnsal.
Er wusste noch genau daran, wie er zu ihr aufgesehen hatte und dabei die Augen zukneifen musste, weil die Sonne so blendete. Erst konnte er ihre Angst nicht verstehen. Er war vom Dach gefallen, das hatte er gewusst, ihm tat auch alles Mögliche weh. Doch das war nichts Neues, die beiden Räuber holten sich schließlich ständig irgendwelche Blessuren.
Doch sie zitterte direkt vor Furcht um ihn!
Er versuchte, ihr etwas Beruhigendes zu sagen und sich zur Seite zu drehen, doch als er den Mund öffnete, kam kein Ton heraus. Erst da wurde ihm klar, dass etwas in ihm kaputtgegangen war. Noch einmal versuchte er, zu sprechen, gleichzeitig wollte er sich hochstemmen. Dabei entfuhr ihm ein erschrockener Schrei.
So spät der richtige Schmerz eingetroffen war, so heftig gebärdete er sich nun. Er sackte in Nellys Schoß zurück. Verschwommen nahm er noch die Stimme seiner Mutter wahr, bevor alles in einem Licht- und Schattenspiel versank.
Ab da begann sein neues Leben. Ein schwierigeres Leben, das er dennoch zu lieben lernte. Er musste mit vielem, im Grunde mit fast allem, ganz von vorn anfangen. Das Sprechen lernte er zum Glück recht schnell wieder, doch das Laufen war ihm seitdem verwehrt.
Und Nelly war immer für ihn da. Sie besuchte ihn so oft sie konnte im Krankenhaus, brachte ihm meistens irgendetwas mit, um ihn abzulenken, munterte ihn in langen Gesprächen auf und stritt aufs Heftigste mit ihm, wenn er sich nicht genügend anstrengte.
Nach den Operationen unternahm sie mit ihm lange Spaziergänge. Erst hatte sie ihn noch mühsam mit dem Rollstuhl geschoben, später rannte sie lachend neben ihm her und spornte ihn zu Wettrennen an. Matthis konnte sich noch ganz genau an den Tag erinnern, als er sie dabei das erste Mal besiegte, obwohl er das nie für möglich gehalten hätte.
Er erinnerte sich daran, dass sie sich mehr als einmal in der Schule wegen ihm prügelte, weil ihn jemand als Krüppel beschimpft hatte. Als sie älter wurden, klaute sie Zigaretten. Sie nahmen nacheinander je einen Zug und bekamen ihren ersten gemeinsamen Hustenanfall, woraufhin sie in schallendes Gelächter ausbrachen. Mit der Zeit lernten sie, sich daran zu gewöhnen, und rauchten in heimlicher Regelmäßigkeit eine gemeinsame Zigarette. Sie verband weit mehr als eine Freundschaft, sie waren Geschwister. Natürlich war das auch amtlich!
Matthis sah den entschlossenen Gesichtsausdruck noch vor sich, den Nelly trug, als sie mit einer raschen Bewegung das Messer an ihren Finger ansetzte. Ihre Lippe war zwischen die Zähne geklemmt und ihr Schweizer Taschenmesser war vieles, vor allem war es eines: stumpf. Doch mit einigem Geritze klappte es schließlich. Sie zuckte nur kurz zusammen und beobachtete dann einen Moment fasziniert den kirschroten Blutstropfen, bevor sie ihm das Messer reichte.
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