Ich suchte mir zwei Eimer. Der eine war für die Milch gedacht, der zweite als Melkschemel. Honey und Sugar traten unruhig auf der Stelle und begrüßten mich mit lautem Muhen. Schnelle Bewegungen vermeidend, richtete ich mich an Honeys Flanke ein, ließ aus jeder Zitze die ersten Tropfen auf den gestampften Erdboden spritzen und säuberte danach das Euter mit einem nassen Lappen. Dann ließ ich abwechselnd mit jeder Hand einen dünnen weißen Strahl in den leeren Kübel schießen. Ein hohler Klang ertönte in immer gleichem Rhythmus. Bis alle Zitzen abgemolken waren, dauerte es eine halbe Ewigkeit. Ich blendete jeden Gedanken an das Mädchen aus und versank in meiner Arbeit.
Es schepperte; ich fuhr auf. Mit dem Eimer noch in der Hand stürmte ich in die Box des Mädchens. Sie blickte mir mit großen, ängstlichen Augen entgegen. Beim Versuch sich aufzurichten, hatte sie die Heugabel zu Boden gerissen.
Minutenlang starrten wir uns an. Schließlich räusperte ich mich. Meine Kehle fühlte sich an wie mit einem Lasso zugeschnürt.
»Ich bin Nick. Du hast nichts zu befürchten. Ich hab dich draußen in der Wildnis gefunden.«
Ungläubigkeit und Angst wechselten sich auf ihrem hübschen Gesicht ab, bis schließlich ein scheues Lächeln über ihre Lippen huschte.
»Du hast mich beschützt?«
Ihre treuherzige, klare Kinderstimme rührte mich. Ich konnte nur nicken.
»Du wirst Master Johnson sagen, wo ich bin?«
Überrascht zuckte ich zusammen. Ausgerechnet Freddy Johnson! Der Vorarbeiter unseres Nachbarn Mr. Goodman war schon vor Ausbruch des Bürgerkriegs kein angenehmer Zeitgenosse gewesen. Er hasste alle Siedler, die wie wir nach dem Krieg gegen Mexiko nach Texas gekommen waren. In den letzten Jahren hatten er und seine Männer fast alle unsere Bekannten zum Aufgeben gezwungen. Am Ende mussten sie dankbar sein, wenn sie von Goodman ein paar Dollar für ihr gesamtes Hab und Gut bekamen. Eine Woche nachdem sich meine Brüder den Rebellen der Südstaaten angeschlossen hatten, war Freddy Johnson auch bei uns aufgetaucht. Vater hatte ihn mit der Flinte vom Hof gejagt. Beeindruckt hatte Johnson das nicht im mindesten. Wenn wir ihn in der Stadt trafen, beobachtete er uns mit dem lauernden Ausdruck einer Katze auf Mäusefang.
Ohne James und Andrew war es schwer, allen Aufgaben auf der Ranch gerecht zu werden. Dazu kamen die kleinen Unglücksfälle. Ein Kalb, das in der Nacht spurlos verschwunden war. Ein Hirschkadaver, den ich erst im Bachlauf gefunden hatte, als mehrere Rinder wegen des verseuchten Wassers verendet waren. Unsere Cowboys hatten sich entweder ebenfalls eingeschrieben oder arbeiteten jetzt für Arnold Goodman. Nach und nach hatten wir unsere gesamte Herde Longhorns verkaufen müssen, und die meisten Reitpferde noch dazu. Wie sollte ich James all das bloß beibringen, wenn er heimkam?
Je länger sie auf meine Antwort warten musste, desto hoffnungsloser wurde der Gesichtsausdruck der Kleinen. Langsam schüttelte ich den Kopf.
»Nein«, schwor ich. »Das werde ich nicht tun.«
Erleichtert sank sie zurück auf die Decke. Es war, als ob ihr diese Frage die letzte Kraft geraubt hätte.
»Ich bin Delilah«, murmelte sie noch, dann klappten ihre Augen zu. Kurze Zeit später zeugte ihr schwerer Atem davon, dass sie eingeschlafen war.
Ich brachte es nicht übers Herz, sie jetzt zu verbinden und damit zu wecken. Stattdessen ließ ich mich neben das Mädchen ins Heu plumpsen und tauchte ein Stück Maisbrot in die frische Milch. Während ich mir meine erste Mahlzeit des Tages schmecken ließ, beobachtete ich meinen Schützling beim Schlafen. Ich würde nicht zulassen, dass sie wieder in die Hände dieses Kerls fiel. Doch ich musste bald eine neue Unterbringung für sie finden! Solange schwebten wir alle in Gefahr.
Nachdem ich meinen Teil aufgegessen hatte, legte ich die andere Hälfte des Brots neben Delilah auf mein Halstuch und rückte den Milcheimer heran. Wenn sie das nächste Mal aufwachte, würde sie sicher hungrig sein.
Mit den Schlingen war ich erfolgreicher als mit der Schleuder. Zufrieden hängte ich das Kaninchen neben die drei Eichhörnchen an meinen Gürtel, machte mich auf den Rückmarsch und führte den Schecken dabei locker am Zügel. Daisy hatte ich im Stall gelassen, damit auch unser zweites Pferd Auslauf bekam. Tief sog ich die kalte Luft ein und genoss jeden Moment in Freiheit, in dem mir niemand vorschrieb, wie ich zu sein hatte.
Ich hatte es nicht eilig zurückzukommen. Heute Nachmittag würde ich ans Haus gefesselt sein und folgsam alle Aufgaben erledigen, die mir Ma auftrug. Dabei wusste ich jetzt schon, dass ich sie wieder enttäuschen würde, egal, wie sehr ich mich anstrengte.
Je näher ich unserem Heim kam, desto langsamer wurden meine Schritte. Ich wollte noch für ein paar Minuten so tun, als wäre ich ein einsamer Fallensteller. Ich hatte gerade eine Jungfrau in Nöten aus den Händen feindlicher Indianer befreit und wir wurden jetzt über die offene Prärie verfolgt. Wenn mir die Feinde vor die Büchse liefen und dann schworen, von uns abzulassen, würde ich Gnade vor Recht ergehen lassen.
Da zerriss ein Schuss die Stille über dem Grasland. Lautes Geschrei erklang; Hufe trommelten auf den harten Boden. Die Ranch! Meine Glieder gefroren mitten in der Bewegung und mein Herzschlag setzte eine Sekunde lang aus. Dann ließ ich die Zügel des Schecken los und begann zu rennen.
3 Annie – 13. Dezember 1863
E in Knall durchbrach die eisige Ruhe des Dezembernachmittags. Die Gestalt, die eben auf Zehenspitzen durch den Dienstboteneingang der Schule für höhere Töchter ins Freie geschlüpft war, zuckte zusammen, blickte sich hastig um und zog die Kapuze ihres Mantels tiefer ins Gesicht. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. So erreichte die Vermummte unbehelligt das schwere Eisentor zur Straße, glitt durch den Spalt und verschwand aus der Sichtweite des Herrenhauses. Nur die Spuren im frisch gefallenen Schnee zeugten davon, dass sie da gewesen war.
Annika Bailey atmete erleichtert aus, als sie zwischen den Häusern in die Gassen Cincinnatis eintauchte, und schob eine kohlschwarze Locke, die sich frech aus ihrem Knoten gelöst hatte, zurück unter die Kapuze. Wieder einmal war sie den strengen Augen von Mrs. Hodgers entkommen, die über die vierzig Schülerinnen wachte, wenn kein Unterricht stattfand. Jetzt musste sie nur noch vor dem Abendessen zurück sein und in der Stadt niemandem begegnen, der sie kannte.
Es waren deutlich weniger Menschen als normalerweise auf der Straße, die ohne Ausnahme dick eingehüllt ihrem Ziel entgegenhasteten. Keiner achtete auf die junge Frau, die mit einem Korb bewaffnet das Militärlager der Unionisten am Stadtrand ansteuerte. Viel hatte sie in dieser Woche nicht vom Tisch abzweigen können. Unter ihrem Tuch befanden sich zwei Äpfel, frisch gebackenes Weißbrot, ein Stück Hartkäse und ein Wurstzipfel, den sie der Köchin hatte abschwatzen können. Annie hoffte, mit den Köstlichkeiten die Zungen der Soldaten etwas zu lockern. Vielleicht erhielt sie so endlich Neuigkeiten von der Front!
Belustigt beobachtete die Fünfzehnjährige einen Mann mit schwarzem Spitzbart, dessen Besorgungen so hoch auf seinen Armen gestapelt waren, dass sie seine fliehende Stirn gut zwei Fuß überragten. Entfernt kam ihr sein Gesicht bekannt vor, doch sie konnte sich nicht entsinnen, woher. Der Mann schaffte es kaum, um seine Ladung herumzuspähen. So kollidierte er mehrmals mit anderen Passanten und entschuldigte sich jedes Mal wortreich. Gerade steuerte er auf eine junge Mutter zu, die auf dem einen Arm einen Säugling balancierte und mit dem anderen einen heulenden Buben hinter sich herzog. Im letzten Moment verhinderte sie den Zusammenstoß mit einem Sprung zur Seite und schimpfte dem Mann hinterher. Vor Schreck hatte ihr Sohn aufgehört zu weinen. Doch kaum war die Gefahr vorüber, fing er mit doppelter Lautstärke erneut an.
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