Annie klappte den Mund zu. Deutlicher hätte Mr. Curtis seinen Standpunkt nicht vertreten können. Sie musste ihm die Kutsche abnehmen, und sie wusste auch schon wie.
Der Bahnhof der Kentucky Central Railroad befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Ohio River in Covington. An Cincinnati war er durch eine Fähre angebunden. Auf dem Fluss wogten Eisschollen, doch die Ufer waren eisfrei. Unzählige Boote und Raddampfer hatten im Hafen geankert, um Passagiere und Waren anzuliefern und aufzunehmen.
Trotz der regen Geschäftigkeit ging es jetzt ruhiger zu als im Sommer, wenn hier Schiff an Schiff lag und ein lautstarkes Chaos herrschte. Dann schrien Menschen einander zu, stolperten über Gepäck und gelöschte Schiffsladungen und handelten Geschäfte aus. Mrs. Hodgers hätte einen Herzinfarkt erlitten, wenn ihr bekanntgeworden wäre, dass ihr Schützling es liebte, sich in diesem bunten Strudel treiben zu lassen, Familien, Seeleute, Hafenarbeiter und Soldaten aller Hautfarben zu beobachten und sich dabei ihre Geschichten auszumalen. Eines Tages würde sie selbst an Bord eines Ozeanseglers gehen und Asien, Europa oder Afrika bereisen. Davon träumte Annie, seit ihr ihre Mutter als kleines Mädchen von all diesen exotischen Orten vorgelesen hatte.
Zwischen den zivilen Schiffen waren Kanonenboote vertäut, jederzeit bereit, den Feind an der Überquerung des Ohios zu hindern oder Nachschubtruppen flussaufwärts oder flussabwärts zu schaffen. Wie wohl die Flüchtlinge gedachten, den breiten Strom zu überqueren? Für die Brücke hinüber nach Kentucky war aus Geldnot ein Baustopp verhängt worden, und die Entflohenen konnten auch schlecht an einer Fährstation um Überfahrt bitten. Mrs. Hodgers hatte im Unterricht geschildert, wie einigen Sklaven zu Fuß die Flucht über das Eis des Ohio gelungen war, als der Fluss 1856 von einem Ufer bis zum anderen zugefroren war. Daran war in diesem Winter nicht zu denken. Schwimmen zog Annie erst gar nicht in Betracht, da kein Mensch lange genug im Eiswasser überleben würde.
Im Grunde konnte es ihr einerlei sein, wie die Überquerung vonstattenging. Ihre Aufgabe bestand nur in der Lieferung der ›Gepäckstücke‹ vom Fluss in die Stadt. Morgen würde Annie Cincinnati verlassen und der ganzen Aufregung den Rücken kehren.
Inzwischen war die Kutsche in die Straße zur Fähre eingebogen. Der Verkehr war hier dichter und sie kamen nur noch langsam voran. Mehrere Wagen warteten, am Ableger aufgereiht, auf Fahrgäste. Die Fahrspur war durch Reiter, Fußgänger und Pferdegespanne blockiert. Weinende Mütter schlossen junge, zerlumpte Soldaten in die Arme, die wohl ebenfalls Weihnachten zu Hause verbringen durften und auch weinten oder sich verlegen umblickten. Ein elegantes Ehepaar, dessen vier Kinder den Eltern wie Orgelpfeifen folgten, wollte vielleicht Weihnachten bei Verwandten feiern, denn hinter ihnen schleppten Diener unzählige Taschen und Koffer durch das Gewimmel zum Pier. Annies Blick blieb an einem grauhaarigen Veteranen oben am Steg hängen, der sich zwei hölzerne Krücken unter die Achseln geklemmt hatte. Sein rechtes Hosenbein war leer und nach oben gerollt. Zweifelnd blickte er auf die wenigen Tritte hinunter zur Straße, die ein schier unüberwindliches Hindernis darstellten. Nach einiger Zeit setzte er einen Stock auf die erste Stufe, zitterte dabei aber so stark, dass Annie nicht länger zusehen konnte.
»Mr. Curtis, seien Sie bitte so gut und helfen Sie dem armen Mann dort oben.« Sie hoffte, dass der Kutscher die Anspannung in ihrer Stimme nicht bemerkte. Ihr Plan hing zum großen Teil davon ab, dass Mr. Curtis vor ihr von der Kutsche stieg. Je weiter er sich entfernte, desto besser standen ihre Aussichten.
Mr. Curtis war nicht im mindesten begeistert, dass er seinen Schützling allein zurücklassen sollte. Als er aber Annies besorgtem Blick folgte, erkannte auch er die gefährliche Lage, in der sich der Veteran befand. Die anderen Passanten nahmen dessen Not nicht wahr und hasteten an ihm vorbei. Jetzt rempelte ihn eines der Orgelpfeifen-Kinder an und stürmte einfach weiter, während der Kriegsversehrte sekundenlang um sein Gleichgewicht kämpfte. Fluchend sprang Mr. Curtis auf den Boden. Annie beobachtete, wie er die Treppe hinaufeilte. Gerade noch rechtzeitig gelangte er nach oben, denn der Fremde kippte just in dem Moment vornüber, als sich der Kutscher vor ihm aufbaute.
Doppelte Erleichterung durchströmte Annie. Jetzt lag es an ihr. Zwar hatte sie zuletzt zu Hause eine Kutsche gelenkt und damals war es nur ein leichter Einspänner gewesen; sie traute sich das Kunststück aber durchaus zu. Noch ein schneller Blick über die Schulter, dann nahm sie die Zügel in die Hand, löste die Bremse und schnalzte mit den Riemen.
Tatsächlich setzte sich der brave Kutschgaul in Bewegung und Annie atmete aus. In der Eile hatte Mr. Curtis sein Gefährt mitten auf der Straße stehen lassen. Das kam ihr jetzt zugute.
Das Mädchen hatte bereits mehrere Fuß zurückgelegt, als hinter ihr ein Schrei erklang: »Bleib hier! Wo willst du hin, Kleine?!«
Ein weiteres Mal wandte sich Annie um und sah Mr. Curtis mit dem alten Soldaten im Arm auf der obersten Stufe balancieren. Noch war er in Rufweite.
»Holen Sie die Kutsche morgen beim Schmied ab!« Sie war sich sicher, dass ihr Freund sie nicht verraten würde. Aber sie wollte auch nicht, dass er Ärger bekam.
Kurzerhand stellte Mr. Curtis seine Last ab, sprang die Treppen hinunter und nahm die Verfolgung auf. Kampflos würde er seinen Wagen wohl nicht aufgeben. Annie konzentrierte sich auf das Pferd und den Verkehr vor ihr. Sie setzte dazu an, die wartenden Kutschen zu überholen. Ein Grüppchen Frauen wich mit ihren Einkäufen auf den hölzernen Fußweg zurück. Der Weg war offen. Doch da scherte vor ihr ein anderes Gespann aus der Schlange und blockierte die Bahn. Mit klopfendem Herzen brachte Annie den Kutschgaul zum Halten. Mr. Curtis’ Geschrei in ihrem Rücken kam näher. Wenn die Straße nicht bald frei wurde, hatte er sie in wenigen Augenblicken eingeholt. Zu Fuß kam er im Gewimmel viel schneller voran als die ausladenden Kutschen.
Die allgemeine Aufregung übertrug sich auf den Falben. Er tänzelte nach rechts und links, schnaubte, warf seine Mähne zurück. Immer wieder zog Annie am Zügel, damit sie nicht auf das Gefährt vor ihr auffuhr. Sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf das Geschehen vor ihr. Wo entstand die Lücke, durch die sie schlüpfen konnte?
»Bleib stehen, Mädchen!«, keuchte die Stimme von Mr. Curtis direkt hinter ihr.
Annies Kopf schoss herum. Der Alte hatte ihre Kutsche eingeholt und klammerte sich mit glühend rotem Gesicht an den Brettern der Pritsche fest. Es durchfuhr sie wie ein Blitz: Sie hatte versagt! Ihr Herz pochte schmerzhaft. Blut rauschte in ihren Ohren. Sie würde von der Schule verwiesen werden! Sie würde mit ihrer Stiefmutter leben müssen! Was würde mit den entflohenen Sklaven im Wald geschehen? Sie durfte jetzt nicht aufgeben!
Annie verkrampfte ihre schweißnassen Finger um die Zügel und starrte wieder auf die Straße vor sich. Gab es nicht doch noch einen Ausweg?
Plötzlich peitschten Schüsse durch den Tumult. Annie zuckte zusammen und sah sich um. Drei Burschen in Uniform schwankten lachend von der Fähre; feuerten übermütig ihre Revolver ab. Auch Mr. Curtis blickte nach oben. In dem Moment erspähte Annie eine Lücke zwischen dem störenden Gefährt und dem Fußweg. Sie ließ die Zügel fahren und knallte mit der Peitsche. Für den mächtigen Kaltblüter war das endgültig zu viel. Er sprang vorwärts, floh in Panik vor den unheimlichen Geräuschen. Mr. Curtis’ Finger lösten sich. Annie klammerte sich an den Kutschbock. Wenn sie herunterfiel, brach sie sich das Genick! Lenken oder gar bremsen konnte sie das Pferd nicht mehr. In mörderischem Tempo pflügte Annies Kutsche an dem anderen Gespann vorbei. Jeden Moment würde sie zwischen diesem und dem Holzsteg zerquetscht werden, da war Annie sich sicher!
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