Den Kirchenchor, den Pfarrer Ebershäuser hatte singen lassen wollen, fand der Bürgermeister dann doch zu übertrieben, ganz davon abgesehen, dass sich die einzig brauchbare Bassstimme auf der Alm befand und die anwesende Altstimme erkältet klang.
So fand Paula zu ihrer Verwunderung die holprige Straße von einigen in Trachten gekleideten Leuten blockiert. Alle blickten sehr feierlich und irgendwie erinnerte die Szene an einen Staatsempfang, nur kleiner und ohne roten Teppich. Zwei blond bezopfte Mädchen hielten ihr schüchtern einen Blumenstrauß hin. Ein Herr mit unübersehbarem Bierbauch und rötlicher Gesichtsfarbe stellte sich als Bürgermeister Edwin Baum vor. Er kramte einen Zettel hervor, sprach im Namen der ganzen Gemeinde Lämmerbach seine Freude darüber aus, sie hier begrüßen zu dürfen und wünschte eine frohe, für alle Seiten befriedigende Zusammenarbeit im Dienste an der Jugend.
Der hagere, undefinierbar alte und nahezu kahlköpfige Pfarrer im schwarzen Anzug schloss sich diesen Wünschen an und drückte seine Hoffnungen aus, sie bald in der Kirche oder vielleicht sogar im Kirchenchor anzutreffen. Er hatte ihre Gitarre im Auto entdeckt und auf eine musische Begabung geschlossen.
Eine ältere Frau, die ihr graues Haar in einem voluminös aufgetürmten Knoten trug, klemmte sie einfach ungefragt mitsamt Blumenstrauß an ihren wogenden Busen. Sie erklärte in breitestem schwäbisch, bayerisch oder was auch immer das für eine Sprache sein mochte, sie würde von allen hier Tante Lieselotte genannt. Die Blumen ließen daraufhin schockiert die Köpfe hängen und erholten sich im Gegensatz zu Paula auch im späteren Verlauf des Tages nicht mehr von dieser Begrüßung.
Eine überaus korrekt wirkende Frau mittleren Alters entpuppte sich als Frau Tannhauer, die mit ihrem Mann zusammen den kleinen Laden am Ortsausgang betrieb und auch für die Post zuständig war. Sie überreichte ihr einen kleinen Laib Brot und ein Päckchen Salz als Willkommensgeschenk.
Allmählich gingen Paula die Luft, das Lächeln und die freien Hände aus. Sie bemerkte verwirrt, dass eigentlich jeder der Anwesenden gleich mehrere Funktionen innehatte. Der Bürgermeister war gleichzeitig Gastwirt, Tante Lieselotte Mädchen für alles, der Pfarrer leitete den Kirchenchor…
Ob man ihr wohl auch irgendwelche Arbeitsgebiete außer der künftigen Lehrtätigkeit zugedacht hatte?
Von der anderen Seite der Straße kam nun eine große, attraktive und beinahe modern gekleidete Frau Anfang dreißig auf sie zu. Sie wirkte durch ihre Normalität in dieser Umgebung fast deplaziert. „Hallo, Frau Müller. Ich bin Anne Martin, die Hebamme dieses Ortes. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt.“ Sie sprach gut verständliches Deutsch und verzichtete mit Blick auf die beladenen Hände der gerade Angereisten auf eine Umarmung oder einen Händedruck. Paula fühlte sich dadurch sofort zu ihr hingezogen.
„Es war ein bisschen anstrengend, besonders die letzten Kilometer“, berichtete Paula ehrlich. Vielleicht wurde das als Signal verstanden, die Begrüßung auf ein erträgliches Maß zu kürzen. Die Leute hier schienen alle Zeit der Welt zu haben und die Neugierde stand unübersehbar in ihren Gesichtern. So ähnlich mussten sich die ersten Missionare im Dschungel bei den wilden Eingeborenenstämmen gefühlt haben.
„Das glaube ich gern. Wenn man zum ersten Mal über diesen Berg fährt, hat das was von einem Abenteuer.“
„Ich überlegte mir die ganze Zeit, was ich tun soll, wenn mir ein Lastwagen entgegenkommt“, ergänzte Paula, um etwas zur Unterhaltung beizusteuern und gleichzeitig ihre Unsicherheit angesichts dieser vielen unbekannten Menschen zu überspielen.
Alle lachten auf Kommando und sie fragte sich, ob dies aus Höflichkeit geschah oder ob sie unwissentlich in ein Fettnäpfchen getreten war und sich gerade lächerlich gemacht hatte.
„Da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Hier fahren nicht allzu viele Lastwagen“, beruhigte sie die Hebamme und warf einen strengen Blick auf die Umstehenden, die daraufhin schlagartig das Lachen einstellten. „Ich würde übrigens vorschlagen, dass alle mit anpacken und wir gemeinsam Ihr Gepäck nach oben schaffen.“
Sie ging ums Auto herum und nickte Hannes zu. Der war inzwischen immerhin ausgestiegen, hatte aber sicherheitshalber hinter dem Kotflügel Stellung genommen und schien nicht gewillt, diese Deckung freiwillig zu verlassen.
„Sie können Ihr Auto später hinter dem Haus parken, da ist genügend Platz, aber am Besten in einer Ecke, weil der Bereich des Grundstücks während der Schulzeit als Pausenhof verwendet wird.“ Auch in dieser Hinsicht verwendete man also das „Mehrere Fliegen mit einer Klappe“–Prinzip.
Nachdem das Auto leergeräumt war, verflüchtigten sich die Bewohner allmählich wieder. Nur die Hebamme und Tante Lieselotte blieben.
Die Wohnung sah eigentlich ganz nett aus mit ihren stabilen Massivholzmöbeln, den vielen kleinen Fenstern und dem dunklen Dielenboden. Hannes bekam ein kleines Zimmer in Richtung Hof mit Blick auf Bäume und Berge und ihr eigenes Schlafzimmer zeigte zur Dorfstraße hin. Es war deutlich größer und diente wohl gleichzeitig als Arbeitsraum, denn es hatte zusätzlich einen Schreibtisch und ein großes Bücherregal neben dem Kleiderschrank. Außerdem befanden sich darin ein überdimensionales Bett und zwei Nachtkästchen. Offensichtlich hatten in Lämmerbach in der Vorzeit auch verheiratete Lehrkräfte unterrichtet.
Ein Wohn-Esszimmer und eine kleine Küche gehörten ebenfalls zur Wohnung, die man über eine steile Treppe vom hinteren Teil des Schulhauses erreichte.
Das Einzige, was Paula sichtlich irritierte, war der große, schwarze, gusseiserne Ofen. Heizkörper konnte sie keine entdecken.
„Die meisten heizen mit Holz oder Kohle“, erklärte Frau Martin und folgte damit ihrem Blick. „Öl bekommen wir nicht über den Pass, Strom wäre für die meisten zu teuer und von einer Gasleitung können wir lediglich träumen. Aber wir werden dafür sorgen, dass immer genug Brennmaterial für Sie zur Verfügung steht. Ich zeige Ihnen bei Bedarf gern, wie man den Ofen feuert.“
„Gibt es Warmwasser?“, fragte Paula vorsichtig. Sie rechnete allmählich mit dem Schlimmsten und sah sich stundenlang heißes Wasser auf dem Herd erhitzen.
„Keine Angst. Das Schulhaus ist diesbezüglich fast modern. Im Badezimmer befindet sich ein Warmwasserboiler, der mit Strom arbeitet und Küche und Bad versorgt. Bei Stromausfall ist der Holzofen jedoch Gold wert. Das werden Sie bald genug feststellen.“
Hannes atmete im Hintergrund geräuschvoll ein und aus. Er befand sich gerade in der „Ich dusche gern ausgiebig“–Phase. Dazu hatte er seinen dauerskeptischen Blick aufgesetzt. Der Grund dafür war unschwer zu erraten. „Handyempfang haben Sie wohl keinen“, brummte er bei der erstbesten Gelegenheit und hielt sein Telefon vorwurfsvoll in die Luft.
„Leider nein. Lediglich von der Hochalm aus, aber auch da nur bei gutem Wetter.“
„Internet?“
„Über Satellit oder das Telefonkabel.“
Hannes atmete noch schwerer. „Kein DSL, Glasfaser?“
„Das sind Fremdworte hier. Wir haben ohnehin nur fünf Computer im ganzen Ort.“
Hannes vernichtende Reaktion auf diese Mitteilung wurde zum Glück großzügig ignoriert.
„Jetzt gibt es sechs.“ Paula deutete zum Monitor und gleichzeitig auf ihren Bruder. Ein aufforderndes Nicken zeigte endlich den gewünschten Erfolg. Hannes begann mit aufrührerischer Miene irgendwelche Kabel zusammenzustöpseln und wurde durch diesen Dienst hoffentlich daran gehindert, weiteres verbales Unheil anzurichten. Leider hielt der Friede nicht lange vor.
„Wo ist denn der Fernseher?“, fragte er mit düster umflortem Angesicht von seiner Steckdosenleiste aufblickend.
Anne ließ sich von seiner Beerdigungslaune nicht einschüchtern und zuckte bloß mit den Achseln. „Den müsstet ihr euch selbst besorgen. Die Lehrerin, die vorher hier wohnte, wollte keinen. Über eine Sat- Schüssel hat man aber einen ganz ordentlichen Empfang.“
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