Kaum hatte Paula das Auto auf die holprige, enge Straße gelenkt, endete allerdings seine gespielte Gelassenheit. „Hey, pass doch auf“, brummte er genervt, nachdem er ein paarmal durchgeschüttelt worden war und öffnete widerwillig die Augen. Den Rest der Fahrt blieben diese weit offen.
Nach ungefähr einem Kilometer begann sich der Weg in Serpentinen den Berg hoch zu winden und wurde, falls das überhaupt möglich war, noch schmaler. Dazu wies er reichlich Schlaglöcher auf. Das konnte doch unmöglich eine reguläre Straße für Autos sein. Paula hatte Mühe, die nächsten Kurven in einem Schwung zu nehmen und musste notgedrungen zurücksetzen.
„Eine kurze Frage.“ Hannes klemmte inzwischen knapp hinter der Windschutzscheibe. „Was machst du eigentlich, wenn hier Gegenverkehr kommt?“
„Vielleicht ist das eine Einbahnstraße?“, wagte die Chauffeurin zu hoffen.
Hannes schüttelte mitleidig den Kopf. Als ihnen auf halber Höhe ein Motorroller entgegenbrummte, erübrigte sich diese Frage sowieso.
Der Abgrund hinter jeder Kehre wurde tiefer und das flaue Gefühl in Paulas Magen wuchs. Sie war keine routinierte Autofahrerin und in den letzten Jahren selten dazu gekommen, in der Gegend herumzufahren. Diese Straße übertraf alle Alpträume, die sie je in Bezug auf den Straßenverkehr gehabt hatte. Nicht einmal eine Leitplanke hinderte den freien Blick in den Abgrund. An manchen Stellen war lediglich ein dicker Draht gespannt, der wohl als psychologische Begrenzung dienen sollte.
„Was ist eigentlich Sodom und das andere Wort Camorra oder so. Eine Geheimorganisation?“, fragte Hannes plötzlich.
Paula hatte zwar genug mit dem Autofahren zu tun und keinen Kopf, um sich auf heikle Fragen zu konzentrieren, aber etwas theologische Bildung konnte bei ihrem Bruder kaum schaden. Außerdem war er selten so gesprächig. „Sodom und Gomorrha heißt das. Es waren zwei Städte im Alten Testament. Sie wurden von Gott durch Feuer vernichtet.“
„Warum?“
„Sie lebten nicht nach Gottes Willen.“ Diese Antwort war äußerst unpräzise, aber mit einem Abgrund von mehreren hundert Metern vor Augen, fühlte sich Paula einer Diskussion zum Thema sexuelle Perversion einfach nicht gewachsen. Vermutlich hätte sie die auf der Ebene zwar genauso wenig heil überstanden, doch glücklicherweise fragte Hannes nicht weiter.
Fünf Minuten später, auf der Spitze des Berges, machten sie Halt. Eine Ausbuchtung ermöglichte das gefahrenfreie Abstellen des Autos. Mit wackeligen Knien stieg Paula aus und atmete erst einmal tief durch. Den ersten Teil des Passes hatten sie überlebt. Jetzt musste sie nur wieder auf der anderen Seite hinunter. Schlimmer konnte es kaum mehr werden. Von spätsommerlichen Temperaturen war hier oben leider keine Rede mehr. Der Wind zerrte an ihrer Bluse, zerzauste in Nullkommanix ihre Kurzhaarfrisur und ließ sie bis auf die Knochen frösteln.
Sie widerstand dem Wunsch, ins Auto zurück zu flüchten. Ihre volle Blase würde garantiert keine weiteren Schlaglöcher mehr durchstehen und ob sie in der nächsten Stunde in die Nähe einer Toilette kamen, war fraglich.
Hier oben gab es leider keine Bäume, nur nackte Felsen und ein paar Flechten und Gräser, die sich überlebenswillig bei diesem unwirtlichen Klima an die Hänge klammerten. Die Wolken hingen zudem so tief, dass keine Weitblicke möglich waren. Fast schien es, als habe der Rest der Welt aufgehört zu existieren. Wenn man mit dem Auto auf dieser Straße liegenblieb, durfte man mit keiner schnellen Hilfe rechnen.
Hinter einem Sichtschutz-Steinhaufen kauerte sich Paula schließlich nieder, versuchte auf dem abschüssigen Gelände Bodenhaftung zu behalten und gleichzeitig gegen den Wind anzupinkeln. Nicht, dass sie in dieser einsamen Gegend mit Voyeuren gerechnet hätte, schlimmstenfalls tauchte vielleicht ein Murmeltier oder eine Bergziege auf. Und von Hannes ging auch keine Spanner-Gefahr aus. Der hatte sich hinter seinen MP3-Player verkrochen und spielte mal wieder den Unbeteiligten.
Trotzdem war sie erleichtert, diese Aktion unbeschadet überstanden zu haben. Mit entspannter Blase fühlte man sich gleich deutlich besser. Sie wagte sich sogar um die nächste Ecke und dort todesmutig bis an die Kante vor, um einen ersten Blick auf ihre zukünftige Heimat werfen zu können. Auf der Südseite des Kammes waberte die Wolkenwand weniger dicht und ließ Gucklöcher frei.
Unter ihr öffnete sich ein grünes Tal. Umrahmt von hohen Bergwipfeln wirkte es fast, als wäre dieser Ort vor tausenden von Jahren einfach dort vergessen worden. Waren es die Bemerkungen der verrückten Frau gewesen oder die letzten Kilometer Fahrt? Paula bekam plötzlich Beklemmungsgefühle.
In genau diesem Augenblick stahl sich jedoch ein einziger Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und zog einen hellen Streifen mitten durch diesen abgelegenen Winkel. Es verlieh diesem Anblick etwas Verwunschenes, Unwirkliches, so als wäre es ein Bild aus einem Fantasyfilm, bei dem jeden Moment magische Gestalten auftauchen konnten. In Paulas Vorstellung sah es allerdings aus, als würde Gott mit seinem Finger auf dieses Tal zeigen und sie hielt unwillkürlich den Atem an.
Direkt unten in der Senke konnte man eine kleine Ansammlung von vielleicht fünfzig Häusern ausmachen, die den Dorfkern bildeten, die meisten davon aus grauem Stein erbaut und selbst aus der Ferne betrachtet ziemlich baufällig. Die dominante Kirche am Ortsrand war ebenfalls gut erkennbar. An den Hängen der umliegenden Berge waren verstreut weitere Stein- oder Holzhäuser zu entdecken, offensichtlich bewirtschaftete Almen, erkennbar an den vielen Punkten auf den grünen Wiesen, die sich bei genauerer Betrachtung sicher als Kühe oder Schafe entpuppen würden. Ein kleines Gewässer bahnte sich seinen Weg von dem höchsten Gipfel herunter und vereinigte sich mit ein paar weiteren Rinnsalen zu einem größeren Bachlauf, der dann aufgestaut und verbreitert in der Nähe des Dorfkerns vorbeifloss.
Beeindruckt kehrte Paula zu ihrem Bruder zurück, um ihn auf dieses besondere Bild aufmerksam zu machen. Aber Hannes war zu sehr damit beschäftigt, eine SMS zu verschicken, als dass er einen Blick auf seine künftige Umgebung hätte investieren mögen. Er murmelte nur unwillig: „Ich weiß wie Bäume und Gras aussehen, vielen Dank.“
Nachdem die Sonne wieder hinter den Wolken verschwunden war und alles nun einheitlich trist und leider wenig einladend aussah, kletterte Paula durchgefroren ins Auto zurück. Ein letzter Blick zurück in die Zivilisation, dann begab sie sich mit einem Stoßgebet auf die Fahrt ins Tal und hoffte, dass ihre Bremsen durchhielten.
„Hurra, es scheint immerhin Strom zu geben.“, verkündete ihr Bruder nach den ersten beiden Kehren, als er der wenig dekorativen Strommasten ansichtig wurde, die sich durch das ganze Gelände zogen und wenig Idylle aufkommen ließen. Die grauen Holzpfähle mit den darüber gespannten dicken Leitungen wirkten wie Fremdkörper in der Landschaft.
Nach drei weiteren Kurven wurde vom Beifahrersitz jedoch ein unterdrückter Fluch abgeschickt. „Sch…Das darf ja wohl nicht wahr sein. Ich habe keinen Empfang mehr.“ Er starrte wie hypnotisiert auf sein Handy. Aber alles Klopfen, Schütteln und aus dem Fenster halten nützte nichts.
Eine halbe Stunde später erreichten sie immer noch mobilnetzlos die ersten Häuser von Lämmerbach. Ersatzweise empfing sie dafür Kuhstallgeruch und eine bunte Menschenmenge, die die Dorfstraße versperrte.
Schon Stunden vorher war in Lämmerbach der halbe Ort in Bewegung gewesen. Die Lehrerwohnung im oberen Stockwerk der Schule war gelüftet und geputzt worden und die Betten wurden bezogen. Selbst Kühlschrank und Vorratskammer hatten sich durch hilfreiche Hände gefüllt.
Nach einem Anruf um 14 Uhr, der von einem unbekannten Golf mit auswärtigem Kennzeichen berichtete, blieb gerade noch genügend Zeit, sich ordentlich anzuziehen, die Begrüßungsrede durchzugehen und den Kindern die Blumen in die Hand zu drücken.
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