Julia war inzwischen der Verzweiflung sichtbar nahe. Eine Hand lag auf Paulas Schulter während die andere sich aus dem Haar befreit hatte und nun wenige Zentimeter vor ihrem Kopf herumfuchtelte, wie ein Scheibenwischer im Wolkenbruchmodus. Auf der sonst so ebenmäßigen Stirn begannen sich steile Falten zu bilden. „Du musst völlig übergeschnappt sein, Herzchen. Heutzutage nimmt keiner eine Lehrkraft ohne Vorstellungsgespräch, außer...“ Sie ließ den Satz unvollendet. Dafür tippte ihr Zeigefinger an den Kopf der Freundin, „denk mal drüber nach. Macht dich das nicht misstrauisch? So naiv und weltfremd kannst selbst du nicht sein. Die ganze Sache stinkt doch kilometerweit gegen den Wind.“
Natürlich hatte Paula bereits darüber nachgedacht und wenn ihre Lage nicht so verzweifelt wäre… und nicht nur ihre… Auch ihr Bruder musste dringend von hier fort, je schneller und weiter desto besser. Alles, was sie in den letzten Monaten von ihm zu sehen bekommen hatte, war ziemlich unerquicklich gewesen. Nicht nur, dass er mit dieser entsetzlichen Clique herumhing, neulich war sogar die Polizei vor ihrer Tür aufgetaucht, weil er angeblich bei einem gescheiterten Einbruch beteiligt gewesen sein sollte, wenn auch nur zum Schmiere stehen. Man hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass Jugendliche bereits ab zwölf Jahren strafmündig wären und lediglich ihr Versprechen, den Bruder in Zukunft unter straffer Kontrolle zu halten, die Polizei davon überzeugen könne, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Die ganze Geschichte hatte ihr einen Mordsschrecken eingejagt.
Das fällige Gespräch mit Hannes am Abend darauf war dann leider zum Monolog ihrerseits geraten. Sie kam nicht an ihn ran, und manchmal fragte sich Paula in solchen Momenten, ob sie überhaupt jemals ein halbwegs intaktes Verhältnis zu ihm gehabt hatte.
Vielleicht war sie deshalb so offen für die Sympathiebeteuerungen ihres älteren Kollegen gewesen? Jörg Markhoffs Aufmerksamkeiten fielen auf empfangsbereiten Boden. Hinzu kam, dass sich ihre seitherigen Erfahrungen mit Männern auf ihren selten vorhandenen Vater, mit dem sie ohnehin kein herzliches Verhältnis verband, romantische Fernsehfilme und entsprechend einseitige Literatur beliefen.
Kurzzeitig fühlte sie sich wie das hässliche Entlein, das sich zur eigenen Verblüffung in einen akzeptablen Schwan verwandelt. Dieses Hochgefühl hielt allerdings nur bis zu jenem Abend, als Jörg Markhoff urplötzlich vom Märchenprinzen zum Frosch mutierte.
Hinterher erfuhr sie von Julia, dass es im Kollegenkreis bereits Wetten gegeben habe, wie lange er wohl brauchen würde, um sie flach zu legen. Der Einsatz hatte fünfzig Euro betragen und die pessimistischste Prognose auf zwei Wochen gelautet.
Paula verspürte nach dem fälligen Schock den Wunsch, möglichst viele Kilometer zwischen sich und diese Schule zu bringen. Der Zeitpunkt für eine Versetzung war aber für alle Seiten ungünstig und deshalb bemühte sich der Direktor im Gegensatz zu ihr auch nicht sonderlich darum. Er musste sich schließlich nicht dem Gespött oder Mitleid der Kollegen aussetzen. Das eine war für sie so unangenehm wie das andere. Natürlich würde mit der Zeit Gras über die Sache wachsen, sie war ja noch jung und wenn jemand gehen sollte, wäre das doch eher Jörg. Außerdem gäbe es genug andere Männer, die nicht….
Paula hatte das Gerede der Leute um sich herum so satt, dass sie sich Einsamkeit, Ruhe und keine weiteren guten Ratschläge zu wünschen begann. Sie sehnte sich nach einem Platz, an dem niemand sie kannte und wo sie noch mal ganz von vorne anfangen konnte, und das mit gerade mal 26 Jahren. Gleichzeitig wusste sie, dass ihre Haltung niemand verstehen würde und sie somit auch mit keiner Unterstützung rechnen konnte, zumindest mit keiner menschlichen.
Doch spätestens zu diesem Zeitpunkt kam ihre Religiosität ins Spiel. Dank drei Jahren Kinderkirche und einem christlichen Gospelchor, den sie in sporadischen Abständen besucht hatte, war immerhin so viel Glaube bei ihr hängen geblieben, dass sie vor schwierigen Entscheidungen normalerweise ihr Heil im Gebet suchte. Sie glaubte, dass es einen Gott gibt und dieser bei Bedarf in das Leben einzelner Menschen eingreift. Sie erinnerte sich an diese Möglichkeit und betete intensiv für eine neue Stelle. Zwei Tage später entdeckte sie die Anzeige im „Evangelischen Gemeindeblatt“ und stand staunend davor. War das nicht die Antwort auf ihr Gebet? Die Bedingungen klangen nahezu perfekt und schienen genau auf ihre Situation zu passen. In ländlicher Idylle und mangels einschlägiger Zivilisation und Ablenkung konnte sie vielleicht sogar ihren Bruder unter Kontrolle bekommen und zum Lernen bewegen, so dass er die Mittlere Reife schaffte.
Das alles waren Argumente, die Lämmerbach zur ersten und sowieso einzigen Wahl machten. Die sofortige Zusage, die sie auf ihre Bewerbung erhielt, tat seinen Teil dazu.
„Mein Entschluss steht fest“, sagte Paula, aus ihren Gedanken auftauchend. „Ich habe es vorhin dem Direktor mitgeteilt. Zum Schuljahresende wechsle ich.“
Julia nickte grimmig. „Na gut. Du willst es wohl nicht anders. Aber behaupte hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
„Du bist hiermit von sämtlichen Verpflichtungen entbunden.“ Es sollte ironisch klingen. Doch ihre Stimme klang lange nicht mehr so sicher wie zu Beginn des Gesprächs.
Sie stand bereits an der Tür, als die Freundin ihren letzten Trumpf ausspielte: „Was hält denn Hannes von deiner Idee?“
„Er weiß noch nichts davon.“ Der nervöse Unterton war nun unüberhörbar, „aber ich werde es ihm gleich heute Abend mitteilen.“
„Na dann, viel Spaß.“
Das Gespräch mit ihrem Bruder übertraf alle bangen Erwartungen.
Mit einigem Aufwand brachte Paula ihn erst mal soweit, dass er ihr beim Abendessen überhaupt zuhörte und sich nicht sofort in sein Zimmer oder nach draußen verflüchtigte.
Dann sagte er ganze zehn Minuten lang kein Wort, sondern stocherte nur lustlos in seinen Spaghetti herum, während sie sich über den Ort in den Bergen und dessen Möglichkeiten und Vorteile fast den Mund fusselig redete.
„Ich finde, Lämmerbach klingt ganz hübsch, findest du nicht? So nach Schafen.“ Langsam ging ihr der Stoff aus. Bisher hätte sie mit dem gleichen Erfolg ihre Mühe an eine Parkuhr verschwenden können.
„Es klingt nach völlig belämmert und passt somit hundert Prozent zu dir“, sagte Hannes endlich. „Falls du tatsächlich glaubst, ich würde da mitgehen, musst du wirklich total irre sein.“
„Du hast keine Wahl. Ich habe das Sorgerecht für dich.“ Paula kratzte alles, was sie an Autorität besaß zusammen und warf es in die Waagschale.
Hannes lachte, allerdings klang es keineswegs froh. „Jetzt fällt dir wohl nichts mehr ein. Vergiss es einfach! Es ist eine Sch...Idee. Was kann ich dafür, dass du es nicht mal schaffst, irgendwelche ältere Kollegen bei der Stange zu halten?“
Der Hieb war gut platziert. Er hatte also genug von Jörg mitbekommen, um ihre Hauptbeweggründe zu erahnen. Dabei hatte sie seither gedacht, Hannes würde in einer anderen Welt leben und sie als Schwester bestenfalls durch einen dunstigen Schleier wahrnehmen.
„Und wie hast du dir deine Zukunft denn vorgestellt?“, fragte Paula, weil ihr nichts Besseres mehr einfiel und sie vorrangig damit beschäftigt war, ihre seelischen Wunden zu lecken.
„Ich komm bei einem meiner Kumpels unter. In letzter Not gehe ich zu Paps nach Portugal. Das ist immer noch besser als mit dir irgendwo hin. Glaub nicht, irgendjemand, am allerwenigsten du, wird es schaffen, mich an diesen bescheuerten Ort zu bringen. Wo liegt dieses Belämmertbach überhaupt?“
Das wusste Paula selbst nicht so genau, war aber bereit, auf der Karte nachzuschauen.
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