„Gib dir keine Mühe. Wahrscheinlich findest du diesen Ort nicht mal bei Google Earth. Die letzten, nicht registrierten Quadratkilometer in Deutschland. Ich habe ja nichts dagegen, wenn du in die Wildnis gehen möchtest. Aber lass mich dabei aus dem Spiel.“
„Du weißt genau, dass das nicht geht. Paps Frau wird dich nicht aufnehmen, das hat sie deutlich genug erklärt.“
„Und wenn schon. Irgendeine Unterkunft werde ich auftreiben. Nur weil du meinst, alles hinschmeißen zu müssen, muss ich nicht das gleiche tun. Ich bleib bei meinen Freunden.“
„Schöne Freunde, was man so mitbekommt.“
„Du kennst sie ja überhaupt nicht. Hast du dich je für sie interessiert? Komm mir also nicht mit deinem Psycho-Lehrer-Geschwätz.“ Damit verschwand er Tür knallend in seinem Zimmer.
Zurück blieb eine ratlose Paula. Machte sie denn alles falsch? Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen und geheult. Aber außer Kopfschmerzen brachte das nichts, das wusste sie aus bitterer Erfahrung. Wenn sie eins begriffen hatte, dann, dass niemand sie aus einer verfahrenen Lage retten würde, weder ihr Vater noch sonst irgendein Mensch. Sie musste ihr Leben selbst in die Hand nehmen und dummerweise das ihres Bruders gleich mit.
In diesem Augenblick klingelte es.
Zwei von Hannes’ Kumpels standen draußen. Alle wirkten gleichermaßen cool und finster mit ihren gestylten Haaren, den weiten Hosen, Piercings und Tattoos an den unmöglichsten Stellen; dazu den obligatorischen MP3-Player lässig im Ohr. Sie hatte sich tatsächlich nie die Mühe gemacht, sie auseinander zu halten.
„Er ist in seinem Zimmer“, sagte Paula und trat einen Schritt zur Seite. Die Besucher ließen sich nicht zweimal bitten.
Während sie die Küche aufräumte, ging es gut zur Sache. Die Stereoanlage lief auf Hochtouren und es klang, als würden man Kleinholz aus den Möbeln machen.
Irgendwann hatte Paula genug. „Könnt ihr nicht wenigstens ein bisschen leiser sein. Der Vermieter…“ weiter kam sie nicht. Das Zimmer wirkte, als hätte ein Orkan darin gewütet. Ein umgeworfenes Bücherregal, Kleider hingen aus dem Schrank und lagen auf dem Boden verstreut, der Schreibtisch stand offen und der Inhalt der Schubladen verteilte sich über den Rest des Raums. Nicht, dass Hannes je sonderlich viel Sinn für Ordnung besessen hätte, aber das überstieg selbst seine Grenze.
Er lag auf dem Boden und einer seiner Kumpels kniete neben ihm, während der andere ihn festhielt. Falls Paula bis zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel an der Absicht der beiden Besucher gehabt hätte, wäre das Messer in der Hand des einen durchaus geeignet gewesen, sie zu überzeugen.
„Hey, was soll das?“, fragte sie und schnappte sich ohne zu zögern den nächstbesten, schweren Gegenstand, in diesem Fall den Schirmständer aus Metall. Ihre Schwäche für Miss Marple–Krimis zahlte sich endlich aus. „Wenn ihr nicht sofort verschwindet, hole ich die Polizei.“
„Das glaube ich kaum“, erwiderte der Festhalter. „Du wirst deinen Bruder doch nicht im Knast besuchen wollen.“
„Halt dich da raus, Paula“, ächzte Hannes. „Das geht dich nichts an.“
„Wer weiß“, sagte der andere Kumpel, „vielleicht hat sie ja die Knete.“
Der mit dem Messer bewachte Hannes weiterhin, während der andere sich mit betont boshaftem Gesichtsausdruck vor Paula aufbaute. Er überragte sie um mindestens einen Kopf und hatte die Statur eines Ringers. „Na Schnecke, wie sieht’s mit uns beiden aus? Du magst es doch sicher, wenn ich mich ein bisschen um dich kümmere? Wir könnten eine flotte Nummer schieben, vielleicht wird dein Bruder anschließend etwas freigiebiger…“ Er grinste anzüglich und machte eine eindeutige Geste.
„Wag es nicht, mich anzufassen“, keuchte Paula vor Empörung und brachte den Schirmständer in Verteidigungsposition.
Ihr Kontrahent kicherte anerkennend. „Wow, du gehst ja richtig ab. Normalerweise stehe ich nicht auf ältere Tussis, aber bei dir würde ich glatt eine Ausnahme machen.“
„Lass sie in Ruhe“, kam es heldenmütig von Hannes.
„F… dich…Ich glaube nicht, dass du momentan in der Lage bist, Bedingungen zu stellen.“
„Um was geht es hier überhaupt?“ Seltsamerweise fühlte sie zwar ihren Puls hämmern, doch die Angst hielt sich in Grenzen. Sie war sich nahezu sicher, dass der Ringertyp nur bluffte.
„Um Kohle, mein Täubchen. Dein verf…Bruder schuldet uns zwei Riesen.“
Paula glaubte sich verhört zu haben. „2000! Stimmt das, Hannes?“
„Ja, aber es ist nicht so, wie es sich anhört“, gab dieser mit gequetschter Stimme zu bedenken. Gequetscht deshalb, weil sein Hals immer noch von einer kriminellen Pranke umklammert wurde.
„Wir warten nicht mehr länger, merk dir das, du H…. Du kannst uns nicht verarschen. Entweder du zahlst oder Freddy kommt persönlich vorbei und der wird nicht so zart mit dir umspringt.“
Diese Drohung zeigte endlich Wirkung und Hannes gestand: „Ich habe gerade keinen einzigen Cent.“
Der Würger stieß ein paar Ausdrücke aus, die Paula nicht in ihrem aktiven Wortschatz führte, deren Sinn sie aber ohne Probleme erahnen konnte. „Dann also zu dir, Mutti. Zahlst du für deinen lausigen Bruder oder sollen wir uns intensiv mit dir beschäftigen? Mein Freund ist schon ganz wild darauf.“
Paula dachte praktisch. „Ihr könnt 500 Euro haben. Die habe ich heute von der Bank geholt.“
„Dann schaff sie her, aber fix. Fe, du begleitest sie, damit sie keine Dummheiten macht.“
„Tu es nicht, Paula!“, rief Hannes tapfer dazwischen, wurde aber durch einen Fußtritt, kombiniert mit ein paar Flüchen, ruhiggestellt.
Paula holte unter dem wachsamen Blick von Felix, dem wandelnden Kleiderschrank, das Geld aus ihrer Kasse. Man konnte unschwer erkennen, dass diese anschließend leer war.
Außer weiteren anzüglichen Bemerkungen wagte er zum Glück nicht, in näheren Kontakt mit ihr zu treten, obwohl sie inzwischen den Schirmständer abgestellt hatte. Er hätte sich ohnehin nur als Filmrequisite geeignet.
„Besser als nichts. Den Laptop und die Stereoanlage nehmen wir als Anzahlung mit.“ Die Gestalt neben Hannes, der wohl als Anführer der Beiden fungierte, ließ von ihm ab und steckte das Geld ein. Felix machte sich parallel an den Abbau der Technik.
„Hey, das könnt ihr nicht. Da sind meine ganzen Programme und Spiele drauf“, wagte Hannes lauthals und mit neu gewonnenem Mut zu protestieren. Der Laptop war das großzügige Geburtstagsgeschenk seines Vaters gewesen.
„Dein Problem. Hättest halt rechtzeitig deine Schulden bezahlt. Nächste Woche holen wir den Rest, und wehe du hast nicht alles beisammen.“
„Das schaffe ich niemals bis dahin, aber ich jobbe während der Sommerferien. Wenn die Schule wieder anfängt, habe ich das Geld, versprochen.“
Die zwei schauten sich abwägend an. Dann sagte Felix: „Also gut, am ersten Schultag sind wir da und wenn ein einziger Cent fehlt, fürchte ich, können wir Freddy nicht mehr zurückhalten. Und das gilt für euch beide.“
Fünf Minuten später endete der Spuk und die dunklen Gestalten waren mit Paulas Geld, Hannes’ Laptop und seiner Stereoanlage verschwunden.
Paula ließ sich aufs Sofa fallen und holte das fällige Zittern nach. Als sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, knöpfte sie sich ihren Bruder vor. Dieser wirkte gespenstisch kleinlaut und überraschend mitteilsam. Allerdings war die Geschichte, die herauskam, wenig erbaulich.
Hannes zog, seit er bei Paula wohnte, mit einer Gang von Jugendlichen um die Häuser, deren Anführer Freddy hieß: Ein Erwachsener, der mit Drogen dealte und noch so einiges andere am Laufen hatte. Natürlich durfte Hannes probieren. Freddy und die anderen aus der Clique hatten sich erstaunlich großzügig gezeigt, wenn es um Alkohol, Gras oder irgendwelche Tabletten ging; bis vor zwei Monaten. Da verlangte Freddy plötzlich, dass Hannes seine Schulden begleichen solle und setzte ihm eine Frist von einer Woche.
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