Das mit dem Einbruch, den er mit zwei anderen aus der Gang übernommen hatte, um an Geld zu kommen, war gründlich in die Hose gegangen und seither hatte Hannes mit Verzögerungstaktik und Ausreden agiert und sich ansonsten so dünn wie möglich gemacht. Als er drei Wochen lang nichts von Freddy und seinen Bodyguards zu sehen bekam, glaubte er, die ganze Sache wäre erledigt. Bis heute Abend eben.
Paula wollte alles im Nachhinein der Polizei melden. Schließlich waren sie bedroht und ausgeraubt worden, man hatte ihr Eigentum beschädigt und dieser Freddy dealte anscheinend ganz offen mit Drogen. Wenn das nicht genug Gründe waren, wusste sie auch nicht.
Aber Hannes redete mit einer solchen Sprachgewandtheit auf sie ein, dass ihr Entschluss von Minute zu Minute mehr ins Wanken geriet. Es war wohl nicht allzu sinnvoll, die Polizei weiter auf ihn aufmerksam zu machen, besonders nach der Geschichte mit dem Ladendiebstahl. So viel verstand Paula ziemlich schnell. Denn unter Umständen gäbe es da noch die eine oder andere unklare Sache, mit der er eventuell in Zusammenhang gebracht werden könne. Es existiere sowieso bereits eine Polizeiakte über ihn und er stünde somit auf einer Art schwarzen Liste. Sie wolle doch bestimmt keinen Bruder, der vorbestraft wäre.
Paula besaß nicht den Mut, näher nachzufragen, sondern starrte ihn nur entsetzt an.
Aber eigentlich sei alles gar nicht so schlimm, erklärte Hannes. Den Laptop müsse er zwar abschreiben, aber das würde er wohl oder übel verschmerzen. Der Prozessor war ohnehin nicht mehr auf dem neuesten Stand. Und um die Stereoanlage sei es auch nicht schade.
Paula schüttelte ärgerlich den Kopf. „Ich versteh nicht, wie du glauben konntest, sie würden dir das Zeug schenken. Ohnehin dachte ich, du wüsstest, wie gefährlich Drogen sind.“ Ein bisschen Erziehung konnte sie sich nicht verkneifen. Schließlich war sie nicht umsonst Lehrerin geworden.
„Diese Pillen sind völlig harmlos. Die bekommst du überall. Und von den harten Sachen habe ich nichts genommen, Ehrenwort.“
„Und was ist mit Alkohol und Marihuana?“
„Komm jetzt bloß nicht als Moralapostel.“
„Wie hast du dir das mit der Rückzahlung vorgestellt?“
„Was heißt hier Rückzahlung? Sie können froh sein, dass sie den Laptop bekommen haben und…“ Er warf seiner Schwester einen verächtlichen Blick zu, „…dein Geld.“
„Vergiss nicht, dass sie wiederkommen wollen.“
„Ich dachte, nach den Sommerferien hören wir uns ohnehin das Schweigen der Lämmer an“, erwiderte Hannes und verdrückte sich postwendend auf sein Zimmer, bevor Paula den Mund zu einer überraschten Entgegnung öffnen konnte.
In den kommenden Wochen bekam Paula immer mal wieder Zweifelanfälle, ob sie tatsächlich das Richtige tat. Bis vor einem viertel Jahr war sie nämlich noch der Überzeugung gewesen, sie hätte einen absoluten Traumjob ergattert. Die Mainzer Realschule besaß einen guten Ruf und das Kollegium hatte sie vor zwei Jahren als Neueinsteigerin herzlich aufgenommen. Außerdem war es ihr über Beziehungen sogar gelungen, eine süße, bezahlbare Wohnung in der Altstadt zu finden, fußläufig zur Arbeitsstelle, jeden Tag am Dom und den hübschen Fachwerkhäusern vorbei. Ihre Schüler mochten sie und sie unterrichtete mit viel Herzblut. Dazu war Mainz eine wirklich gemütliche Stadt, wenn man einmal vom Karneval absah, der die Bevölkerung für ein paar Tage in den Ausnahmezustand versetzte.
Und das alles wollte sie aufgeben wegen einer einzigen dummen Geschichte?
Aber genau an dieser Stelle ihrer Überlegungen kam jedes Mal Hannes ins Spiel. In seinem jungen Leben war schon eine Menge schiefgelaufen. In ihrem natürlich auch, aber die elf Jahre machten eben einen Unterschied.
Begonnen hatte es, als ihr Vater meinte, er müsse seine Karrierechancen nützen und sich im Auftrag seiner Firma nach Portugal versetzen ließ. Von da an tauchte er nur noch als Gast in ihrem Leben auf. Für einen fünfjährigen Jungen war es hart, plötzlich partiell vaterlos zu sein und Mutter hatte als Konsequenz daraus Depressionen bekommen. Sie war mit der Situation hoffnungslos überfordert gewesen, hatte sich aber keine Hilfe geholt, sondern sich immer weiter zurückgezogen. Kurz nach Paulas 18. Geburtstag kam dann der Tiefpunkt und sie setzte ihrem Elend mit einer Überdosis Schlaftabletten ein Ende.
Ein Siebenjähriger sollte seine Mutter nicht morgens tot im Bett vorfinden. Sein hysterisches Geschrei war in der halben Nachbarschaft zu hören gewesen. Der Totenschein hatte zum Glück unverbindlich auf Herzversagen gelautet, weil der herbeigerufene Arzt ihnen zusätzlichen Kummer ersparen wollte.
Hannes war anschließend psychologisch betreut und in ein Internat gesteckt worden, und Paula hatte brav ihr Abitur gemacht. Erst während des Studiums begann sie aus diesem Lebensalptraum zu erwachen. Ihr Vater hatte inzwischen eine Portugiesin geheiratet, mit der er ohnehin seit fünf Jahren liiert war und blieb vor Ort, in einem netten Bungalow an der Algarve. Natürlich durften seine Kinder ihn jederzeit besuchen. Aber nach den ersten zwei Probewochen in den Sommerferien hatten Hannes und sie freiwillig auf weitere Versuche verzichtet.
Dafür gelang es ihrem Bruder in den nächsten Jahren ein recht eigenwilliges Leben zu führen, während sie sich parallel dazu mit voller Kraft auf ihr Studium gestürzt hatte, um es in Rekordzeit zu beenden. Von ihrem Vater durfte sie, außer finanziellen Zuwendungen, mit wenig Unterstützung rechnen. Er entledigte sich kurzerhand seiner erzieherischen Pflichten und übergab die Beaufsichtigung seines Sohnes vertrauensvoll Paulas pädagogischer Kompetenz.
Dadurch blieb der ohnehin klägliche Rest ihres Privatlebens auf der Strecke. Die Tage bestanden aus Vorlesungen, Lernen, Jobben und regelmäßigen Besuchen bei ihrem kleinen Bruder, die allerdings auf wenig Gegenliebe stießen. Studentenpartys, Freundschaften, nächtliche Diskussionen, Flirten und all die Dinge, die normalerweise ein Studentenleben auszeichneten, lernte sie nur aus zweiter Hand kennen. Das Leben ihrer Mitstudenten schien sich in einer anderen Welt abzuspielen, zu der sie keinen Zutritt bekam. Sie war eine Außenseiterin und wurde auch so behandelt. Paula, die stets Vernünftige und Strebsame, von der man sich bestenfalls mal irgendwelche Unterlagen auslieh.
Kaum hatte sie ihr Referendariat beendet, flog Hannes wegen mehrerer Delikte, unter anderem Drogenkonsums, vor einem halben Jahr hochkant aus dem Internat. Sie holte ihn zu sich und meldete ihn als Schüler in ihrer Arbeitsstätte an. Hannes zeigte sich dafür jedoch keineswegs dankbar. Im Prinzip zeigte er sich überhaupt nicht. Nur zu bald gingen ihr die Entschuldigungen aus. Alle Versuche, Kontakt zu ihm aufzubauen, prallten wie an einer Wand ab. Deshalb musste sie dringend von hier weg.
Am letzten Schultag schenkte ihr Julia zwei Heimatromane. Einen unter der Rubrik „Der Bergdoktor-Teil 3“. Der andere trug den Titel „Alpenglühen – Die Sennerin vom Silberwald.“ Auf den Titelbildern waren fotogene, glückliche Menschen in Trachtenmode zu erkennen, außer dem attraktiven Bergdoktor natürlich. Der trug einen weißen Kittel und das unvermeidliche Stethoskop um den Hals.
„Ein bisschen Insiderwissen kann nicht schaden. Zum Lokalkolorit schnuppern. Das ist sicher fast so gut wie ein Reiseführer. Alles Gute.“ Ein paar Umarmungen, ein Blumenstrauß von den Kollegen und vorbei war es.
Die restlichen Wochen vergingen mit dem Ausräumen und Renovieren der Wohnung. Hannes verlegte sich sogar aufs Mithelfen. Allerdings hatte sich seine Redseligkeit mit dem einen Abend gründlich erschöpft. So kam Paula wieder vermehrt in den Genuss seines Schweigens, wenn er nicht gerade ihren PC blockierte, um im Internet zu surfen, zu chatten oder sich irgendwelchen Ballerspielen hinzugeben. Aber wenigstens boykottierte er nicht mehr die Abreise. Offensichtlich legte er keinen Wert auf weitere Besuche.
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