Einen Teil ihrer Möbel verkauften sie bei Ebay, ein anderer Teil blieb für die Nachmieterin in der Wohnung zurück. Lediglich ein paar kleinere Stücke, die in den zur Ladefläche umfunktionierten Rückraum ihres Golfs passten, sollten mit ihnen die Reise nach Lämmerbach antreten.
In der letzten Nacht vor ihrer Abfahrt überfiel Paula ein Alptraum. Sie sah sich an einem Abgrund stehen, unter ihr die totale Leere. Sie hatte Todesangst. Plötzlich tauchte Jörg neben ihr auf. Er blickte sie abschätzend an, lachte höhnisch und meinte: „Du traust dich ja eh nicht. Du bist nichts weiter als eine verklemmte, graue Maus.“
Der Schmerz über diese Worte war plötzlich größer als ihre Angst. Ohne weiter nachzudenken nahm sie Anlauf und sprang. Das Letzte, was sie wahrnahm, war etwas Rotes, das mit rasender Geschwindigkeit auf sie zukam.
Paula erwachte schweißgebadet und wusste, dass dieser Traum mehr gewesen war als ein bloßes Hirngespinst. Er hatte etwas Prophetisches gehabt und war Ausdruck ihrer momentanen Situation.
Am Montag, den 23. August morgens um acht ging es los. Ihr alter Golf war bis oben hin vollgestopft, vollgetankt und generalüberholt. Die Besorgnis der letzten Nacht hatte sich leider nicht in Luft aufgelöst. In Paula kribbelte die Nervosität wie ein Haufen Ameisen auf Beutezug. Aber sie wollte Hannes nichts davon merken lassen. Deshalb machte sie einen auf betont optimistisch. Sie sagte nicht einmal etwas zu seiner neuen Frisur, die aussah, als ob man den Lehrling zum ersten Mal auf einen Kunden losgelassen hätte. Lange und kurze Haare bildeten ausgefranste Koalitionen. Mit Gel hatte er dazuhin ein paar wahllose Strähnen nach oben betoniert. Löchrige Jeans, samt einem Shirt mit Totenkopf vervollkommneten sein Outfit. Den guten Ersteindruck konnten sie abschreiben.
Die dreihundert Kilometer auf der Autobahn lief zum Glück alles wie am Schnürchen. Von der Beifahrerseite kamen entweder Schnarch-Geräusche oder monotone Bassläufe aus dem MP3-Player.
Die Kilometer danach, durch unzählige Dörfer, waren da schon zäher. Aber die immer höher werdenden Gipfel sahen echt imposant aus. So nah war sie den Bergen noch nie gekommen, zumindest als Autofahrerin.
Nach einer kurzen Rast standen sie schließlich vor dem ersten wirklichen Problem. Die Anfahrtsbeschreibung, die ihr mit der Zusage auf ihre Bewerbung geschickt worden war, endete in einem Ort, der Lammfeld hieß. Weit und breit war kein weiteres Dorf zu sehen. Sie hatte auch auf keiner Straßenkarte ein wie auch immer geartetes „Lämmerbach“ entdecken können. Aber das teilte sie Hannes vorsichtshalber erst zu diesem Zeitpunkt mit. Sein Google Earth-Gespött mit dem weißen Flecken auf der Landkarte klang ihr noch unangenehm im Ohr.
„So sieht also das Ende der Zivilisation aus“, sagte er daraufhin und versagte jegliche Mitarbeit, indem er die Augen schloss und sich mit verschränkten Armen in seinen Autositz zurücklehnte.
Eine ältere Frau in einer blumigen Kittelschürze, die mit ihrem Besen am Straßenrand herumhantierte, erwies sich als hilfreicher. Sie kicherte auf Paulas Nachfrage. „Wo denkens hin? Lämmerbach en Ortsteil von Lammfeld. Nie im Leben. Gott sei‘s gedankt.“
Dies war Paulas Erstkontakt mit dem hiesigen Dialekt und außerdem nicht die Auskunft, die sie erwartet hatte.
Die Einheimische beugte sich trotzdem neugierig ins Autoinnere. „San Sie etwa die Lehrerin?“ Fast hätte man meinen können, ihr Tonfall bekäme einen mitleidigen Anstrich. Aber vielleicht reagierte Paula in diesem Punkt auch übersensibel. Die ungewohnte Aussprache kostete sie ohnehin reichlich Mühe, überhaupt etwas zu verstehen.
„Woher wissen Sie das?“, erkundigte sie sich höflich, nachdem sie die Überraschung halbwegs verdaut hatte.
„Ha. Des weiß jeder hier. Lämmerbach is schließlich unser Nachbargmeinde. Zu unserm großn Leidwesn“, fügte die Alte hinzu und bekreuzigte sich schnell. Plötzlich ließ sie den Besen fahren, griff durch das geöffnete Seitenfenster und packte Paula bei der Schulter. Diese derb schüttelnd, zischte sie: „Noch könnens umdrehn, junge Frau. Hörens?“
Hannes öffnete bei dieser Attacke tatsächlich die Augen und wirkte allein dadurch merklich wacher.
„Und warum sollte ich das tun?“ Paula versuchte die Krallenhand so dezent wie möglich von ihrer Schulter zu streifen. Hatten sie es hier etwa mit einer geistig Verwirrten zu tun?
„Weil dort Leib und Seel in Gefahr sin.“
Hannes hatte so viel von dem Gespräch verstanden, dass seine Neugierde geweckt worden war. Er sagte zu Paula gewandt: „Klingt vernünftig, findest du nicht?“ Dann beugte er sich ein Stückchen an ihr vorbei, um die Sprecherin direkt in Augenschein zu nehmen. „Und was geht in diesem Lämmerbach denn so krass ab?“
Die Angesprochene fühlte sich geschmeichelt und kam der Informationsbitte ohne zu zögern nach. „Sie habet offensichtlich keu Ahnung. Anders kann ich mir net erklärn, warum Sie hier sin. Kein Mensch betritt freiwillig des Tal von dene Ketzer. Do drübn gehts scho lang nimmer mit rechte Dinge zu.“ Es folgte ein eigentümlich prüfender Blick. Aber wenigstens fuchtelte die Hand nicht mehr ihm Innenraum herum oder wurde übergriffig. „Lassens sich warnen. Niemand kann einen dort schützn und dabei herrschn teilweis Zuständ wie in Sodom und Gomorrha. Vielleicht fällt ja bald Feuer vom Himmel und vernichtet allesamt.“, beendete sie ihren Monolog und schlug erneut ein Kreuz vor ihrer Brust.
Paula mutmaßte inzwischen, dass diese debile Dorfbewohnerin normalerweise unter strengem Gewahrsam ihren Lebensabend verbrachte. Trotzdem hatte sie einiges zu verdauen. Geistesgestört hin oder her. Warum behauptet jemand solche schrecklichen Dinge? Sie musste schauen, dass sie hier wegkam, bevor Hannes eine Revolution probte. Er sah schon ganz danach aus. Deshalb kämpfte sie sich zu einem mühsamen Lächeln durch und meinte: „Von dem allem können wir uns ja bald selbst überzeugen. Ich müsste nur wissen, wie ich jetzt weiterfahren soll.“ Energisch griff sie ans Lenkrad, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen.
Die alte Frau wirkte von dieser Reaktion sichtlich enttäuscht. „Jo mei, no rennens halt in ihr Unglück, wenn Se sich absolut nix sagn lassn wolln… Der einzige Weg nach Lämmerbach führt übern Pass.“
„Über welchen Pass?“ Paula fürchtete, etwas falsch verstanden zu haben, aber als Antwort bekam sie nur ein stures Nicken. Als sie immer noch nicht begriff, zeigte die Hand der selbsternannten Prophetin nach Südwesten. Das Einzige was man in dieser Richtung erkennen konnte, war ein gewaltiger Berg, steil, felsig, unbewohnt und wenig einladend. „Und wo ist die Straße?“
„Sie fahret bis zum Ortsend, da befindet sich en großer Bretterzaun. An dem links und immer em Weg folgn. Pfiad euch Gott. Der is ohnehin der Einzige, der Ihnen noch helfn kann.“ Die kauzige Einheimische schlug ein letztes Kreuz, dieses Mal auf Paulas Stirn, bevor sie mitsamt ihrem Besen eilig in einem der Vorgärten verschwand.
„Du meine Güte, war die durchgeknallt“, stellte Hannes beeindruckt fest, als seine Schwester nach einem nervösen Fehlstart den richtigen Gang gefunden hatte und sich durch den Rest des Ortes vorarbeitete. „Vielleicht sind hier ja alle so.“
Sie verschwieg besser, was sie dachte und hoffte, dass Hannes von ihren Überlegungen nichts ahnte. Auf was hatte sie sich da bloß eingelassen?
Der Zaun war schnell entdeckt. Ein kleiner Pfeil mit dem Hinweis „Lämmerbach, 15 km“ wies den Weg. Die fünfzehn Kilometer konnten allerdings nur ein Irrtum sein. Dazu entpuppte sich die Straße bestenfalls als Feldweg.
„Stimmt es etwa doch, dass die Erde eine Scheibe ist und man durch einen großen Bretterzaun am Runterfallen gehindert wird? Ich hielt dieses Weltbild seit dem Mittelalter für überholt“, kommentierte ihr Beisitzer, erwartete aber keine Antwort, sondern zog, zum Zeichen der Ruhebedürftigkeit, die Kapuze seines Shirts über den frisurtechnisch verunstalteten Kopf.
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