Hannes stand dieses Mal kurz vor einem Ohnmachtsanfall, zumindest tat er so.
„Wenn de magst, kannst ja zu mir zum Fernseh guckn rüberkommn, junger Mann. Ich wohn gleich gegenüber“, schlug Tante Lieselotte allen Ernstes vor und zwinkerte Hannes verschwörerisch zu.
Diesem ging der Sinn für nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft leider ab. Er flüchtete in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Bevor sich Paula für sein schlechtes Benehmen entschuldigen konnte, sagte die Hebamme: „Lassen Sie ihm Zeit, sich einzugewöhnen.“ Sie lächelte nachsichtig. „Ich habe eine dreizehnjährige Tochter und weiß wovon ich rede. Junge Leute sind manchmal so. Wir haben übrigens ein bisschen was zum Essen für Sie hingestellt.“ Sie deutete auf den Kühlschrank und das danebenstehende altmodische Küchenbüffet. „Ich wohne im letzten Haus auf der linken Seite bevor es zur Hochalm geht. Wenn Sie Fragen haben, können Sie jederzeit rüberkommen.“
„Danke.“ Paula war im Gegensatz zu ihrem Bruder überwältigt von der Freundlichkeit, mit der sie aufgenommen wurde und hatte den Eindruck etwas dazu sagen zu müssen. „Ich habe nicht erwartet, so nett empfangen zu werden. Ich freue mich, hier zu sein.“ Das klang nicht sonderlich toll, aber etwas Besseres fiel ihr auf Anhieb nicht ein.
„Wir freuen uns auch, dass Sie gekommen sind. Ich fürchte nur, dass Sie bald….“ Die Hebamme schien mehr sagen zu wollen, wurde aber von Tante Lieselotte unsanft unterbrochen. „Jetzt mach ihr bloß keu Angst, Anne.“ Sie schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich bin sicher, Sie werdet sich hier sehr wohl fühln, Fräulein Müller.“ Die ältere Frau strahlte förmlich vor Zuversicht.
Anne bewegte sich daraufhin Richtung Tür. „Ich komme morgen früh rüber, vielleicht so gegen zehn, wenn das in Ordnung ist. Dann kann ich Ihnen die Schule zeigen“, sagte sie abschließend.
„Das wäre sehr freundlich. Ich würde vor allem gern etwas über die anderen Lehrer erfahren, die Lehrmittel einsehen und den Stoffplan kennenlernen, damit ich mich vor Schulbeginn entsprechend darauf vorbereiten kann.“
Ihre Gastgeberin stoppte daraufhin so ruckartig, dass Tante Lieselotte nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte und in sie hineinlief. Sich den schmerzenden Arm reibend, setzte sie zu einer Erklärung an. Doch Tante Lieselotte war abermals schneller, lachte betont laut, allerdings nicht übermäßig echt und sagte: „Des hat ganz sicher bis morgen Zeit, jetzt sind Sie ja grad erst mal ankommn. Morgen Mittag um zwölf würd ich mi übrigens freun, wenn Sie und ihr Bruder zu mir zum Essen kämet. Aber jetzt gehn mir besser, gell Anne? Pfuid eich Gott und schlafet Se heut Nacht recht schön, Fräulein Müller. Des was ma in der erstn Nacht träumt, des geht nämlich oft in Erfüllung.“ Sie nahm die Hebamme energisch am Arm und führte sie zur Tür hinaus.
Bei Paula blieb ein ungutes Gefühl zurück, nicht nur was die Nacht und ihren Hang zu Alpträumen betraf. Man verheimlichte ihr doch nicht etwa irgendetwas?
Den Rest des Tages verbrachten sie mit Einräumen und Schweigen. Hannes war nicht gewillt etwas außer seinem dauervorwurfsvollen Blick von sich zu geben, erprobte sich aber dafür umso eifriger an der Inbetriebnahme des Computers. Fast schien es, als hinge sein zukünftiges Lebensglück davon ab, das Gerät schnellstmöglich zum Laufen zu bringen.
Paula war dankbar für die Ruhe. Ihr ging einiges durch den Kopf und Hannes wäre ohnehin nicht der richtige Gesprächspartner für ihre Überlegungen gewesen. Sie hatte zwar damit gerechnet, in ein kleines Dorf zu kommen. Doch dass es derart abgeschiedene Winkel in Deutschland überhaupt gab, hätte sie vorher nie gedacht. Außerdem hatten die Worte der alten Frau vom Nachbarort unwillkürlich Misstrauen in ihr geschürt. Obwohl sie die Warnung natürlich nicht ernst genommen hatte, war dennoch etwas bei ihr hängen geblieben. Schließlich konnte man nie mit Sicherheit sagen, ob nicht ein Funken Wahrheit in den Aussagen gelegen haben könnte? Sie würde auf alle Fälle scharf beobachten und vorsichtig sein. In letzter Not packte sie einfach wieder ihre Koffer und verschwand.
Aber gefährlich wirkte der Großteil der Bewohner auf keinen Fall, eher konservativ und fast ein bisschen einfältig. Der übertrieben feierliche Empfang, das ländliche Ambiente mit den blond bezopften Kindern und der gewöhnungsbedürftigen Trachtenmode machten den Eindruck, als wäre die Zeit hier in den letzten Jahren stehen geblieben, als hätte sie nicht nur eine geographische, sondern gleichermaßen eine Zeitreise unternommen. Sie zog unwillkürlich Vergleiche zwischen diesem Tal und der Stadt, aus der sie am Morgen aufgebrochen war. Es lagen nicht nur dreihundertfünfzig Kilometer, sondern gefühlsmäßig ein halbes Universum dazwischen. Einige Überraschungen waren also unvermeidbar.
Zum Glück gab es aber gleich eine durchweg positive. Im Kühlschrank befanden sich Butter, selbst gemachte Marmelade und Käse, frische Milch und sogar Cola, wie Hannes befriedigt entdeckte, ein weiteres Zeichen für Zivilisation. Im handbemalten Buffet daneben waren Schwarzwälder Schinken, Äpfel und sauer eingelegte Gurken untergebracht. Die nächsten Tage würden sie wenigstens nicht verhungern, das stand fest.
Es schmeckte vorzüglich, zumindest Paula. Hannes begnügte sich mit der Cola und einer Tüte mitgebrachter Chips.
Um neun Uhr fiel Paula vor Müdigkeit mehr oder weniger ins Bett. Sie kam sich darin ein wenig verloren vor und rückte deshalb so weit wie möglich an die Wand. Ihr Kopf sank in das prall gefüllte Federkissen und unter die schwere Bettdecke hätte sie locker zweimal gepasst.
Trotz der fremden Umgebung wachte sie aber nur einmal auf, etwas irritiert über die Stille und Dunkelheit in ihrem Schlafzimmer. In der Stadt hatten immer irgendwelche Lichter gebrannt und der nie endende Straßenlärm war bis in ihren Schlaf eingedrungen. Die einzig hörbaren Geräusche hier waren zirpende Grillen, ein bellender Hund in der Ferne, blökende Schafe und ein paar Katzen im Paarungs- oder Revierkampfmodus.
Sie konnte sich hinterher nicht erinnern, etwas geträumt zu haben. Ob das jedoch als Bestätigung genügte, dass ihr in Lämmerbach nichts Schlimmes passieren würde, erschien ihr fraglich.
Um sechs Uhr in der Frühe wurden die Stille und ihr Schlaf allerdings laut und unerbittlich von den Kirchenglocken unterbrochen. Im ersten Moment dachte Paula, ihr Wecker würde klingeln, aber nach sieben weiteren Minuten dämmerte ihr, dass dies nun jeden Morgen zu ihrem Leben gehören und durch nichts in der Welt außer einem Erdbeben oder einer Feuersbrunst abstellbar sein würde.
Anschließend erwachte auch der Rest des Ortes zum Leben. Kühe muhten, Eimer schepperten, eine Tür quietschte. Der Tag hatte lautstark begonnen.
Punkt zehn stand die Hebamme vor der Tür. Hannes übte sich noch überzeugend in der Rolle des Scheintoten, so dass im Moment Ruhe und Ordnung herrschten.
„Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“
„Sehr gut, ich war ziemlich müde.“
„Das werden Sie vermutlich auch die nächsten Tage sein. Wir befinden uns auf knapp 1000 Metern, daran muss man sich erst mal gewöhnen.“ Sie druckste ein wenig herum, dann streckte sie ihr kurzentschlossen die Hand entgegen: „Irgendwie kommt mir das ‚Sie‘ blöd vor. Wenn Sie nichts dagegen haben: Ich heiße Anne.“
„Gern, Paula.“ Erleichtert drückte sie die ihr angebotene Hand.
„Dann begeben wir uns also in die Höhle des Löwen, Paula. Hier sind übrigens die Schlüssel für die Schule.“ Sie hielt einen ganzen Schlüsselbund in die Höhe. „Der ist für die Haustür, das Klassenzimmer, den Vorbereitungsraum, das Materiallager und das Schulklo. Ich besitze für die unteren Räume Ersatzschlüssel, falls mal einer verloren geht.“
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