Mars klatschte nun in die Hände. „Genug geschnattert, wir machen jetzt weiter!“
Mirabella war ausgesprochen dankbar für diesen Appell. Nach der Übung kamen Delphine und Terra erwartungsgemäß zu ihr. „Willst du nicht darüber reden?“, fragte Terra schon fast beleidigt, Lorenzo hatte mit ihr nach den Sommerferien Schluss gemacht, da er sich in Mirabella verliebt hatte.
„Eigentlich nicht“, sagte sie seufzend, musste dann aber lächeln. „Na, schön, seid bitte lieb zu Enzo! Er ist wirklich ein sensibler, lieber Mensch, wenn man ihn besser kennt, und er tut mir echt leid.“ Delphine rümpfte leicht ihre Nase.
„Man kann sogar über seine Sprüche hinwegsehen“, ergänzte Mirabella und grinste leicht. Delphine hatte immer allergisch auf seine Komplimente oder anzüglichen Witze reagiert.
„Und weiter?“, drängte Terra ungeduldig.
„Ich bin einfach nicht richtig verliebt, das kann man eben nicht beeinflussen. Ich hab‘ mir selbst etwas vorgemacht.“
„Und wann ist dir das aufgefallen? Hat er bisschen gedrängt?“, hakte Delphine nach.
„Nein, überhaupt nicht.“ Sie errötete erneut. „Es ist wegen… Nick. Er wäre fast gestorben, ich kann nicht darüber reden, ist alles mega-geheim. Aber da habe ich einfach gemerkt, dass… er derjenige ist, mit dem ich zusammen sein möchte.“
„Das habe ich doch immer gesagt!“, meinte Delphine nun triumphierend.
„Und seid ihr jetzt zusammen?“, fragte die eher praktisch veranlagte Terra.
Mirabella schüttelte den Kopf. „Ich darf keinen Kontakt zu ihm haben, niemand vom Olymp, zu seiner eigenen Sicherheit.“
„Und wie lange?“ Delphine schaute ganz entsetzt.
„Auf unbestimmte Zeit.“
Die beiden Freundinnen bedauerten Mirabella noch eine Weile, dann flogen sie alle in ihre irdischen Heime.
Zuhause setzte sich Mirabella an ihren Schreibtisch und begann einen Brief an Nikolaos. Ihr war auf dem Rückflug aufgefallen, dass vieles für den Fall noch ungesagt war, falls ihr etwas passieren würde. Sie wollte, dass Nikolaos wusste, dass sie schon sehr lange in ihn verliebt war, dies jedoch erst nicht verstanden und später nicht wahrhaben wollte. Sie hoffte, dass er ihr verzeihen würde, dass sie dafür verantwortlich war, dass er tatsächlich inaktiv war. Es wäre zu seinem Schutz gewesen, so wie er sie immer hatte beschützen wollen. Ihren Ärger über die Bevormundung und auch die Zweifel aufgrund der Verheimlichung wichtiger Informationen ließ sie unter den Tisch fallen, es war ein Abschiedsbrief. Für alle Fälle.
Dies war bereits der zweite Abschiedsbrief in ihrem Leben, den ersten hatte sie mit vierzehn Jahren an ihre Adoptiveltern vor der Aufnahmeprüfung geschrieben und Greta übergeben. Die Götter hatten sie bis zum Schluss in dem Glauben gelassen, die Prüfung könnte tödlich enden, was jedoch nur der Einschüchterung diente. Niemand sollte bei der Prüfung zu Schaden kommen, wenngleich Mirabella aufgrund des Anführers der Riesen in Lebensgefahr schwebte. Er hatte, wie so oft, einfach die Grenzen innerhalb der Zwischenwelt überschritten und zufällig das Gelände betreten, wo sie ihre Prüfung ablegen sollte. Mit Mut, List und Glück hatte sie sich und Palatina gerettet, die sich in den Klauen des Riesen befunden hatte. Als sie ohne ihr Amulett, das im Kampf kurzfristig verloren gegangen war, den Olymp nicht hatte betreten können, waren ihr das erste Mal Zweifel an ihrer Herkunft gekommen.
Ein halbes Jahr später nun schrieb sie drei Abschiedsbriefe und sie wusste, dass es dieses Mal nicht unwahrscheinlich war, dass Greta diese Briefe würde aushändigen müssen. Ihren Adoptiveltern dankte sie für alles, erklärte die Pflichten einer Halbgöttin und bat sie, ihr zu verzeihen, dass sie ihnen Kummer zufügen würde. Sie kam sich sehr heroisch vor. Als letztes wollte sie an Jupiter einen Brief verfassen, starrte jedoch ratlos das weiße Papier an. Sie dachte an ihre erste Begegnung mit ihm und musste schmunzeln. Er war gerade als Elvis Double unterwegs und erzählte Mirabella von ihrer Halbgöttlichkeit und ihrer Mutter Helena, es war unfassbar gewesen. Später hatte er ihr dann Minerva und Nikolaos vorgestellt. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, wie lange dies alles her zu sein schien. Schließlich überwand sie sich, setzte den Stift an und versuchte ihrem Wunschvater zu erklären, wer sie war, warum sie tun musste, was sie tat, und bat ihn um Verzeihung.
Mehrfach las sie sich die Briefe durch, packte sie in beschriftete Umschläge, klebte sie zu und übergab sie am nächsten Tag Greta in einem günstigen Moment, als Yasmin und Marcus nicht zuhause waren. „Falls mir mal irgendetwas zustoßen sollte, gibt es drei Briefe, die du aushändigen musst.“
Ihr früheres Kindermädchen sah sie alarmiert an. „Gibt es Schwierigkeiten?“
„Gibt es die nicht immer als Halbgott?“, erwiderte Mirabella leichtfertig.
Greta maß sie eingehend. „Du willst wahrscheinlich nicht reden?“
Mirabella lächelte leicht und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Oh, ich habe gar keinen an Dich verfasst!“, fiel ihr auf. „Aber du weißt, dass ich dich liebe, das muss ich nicht extra sagen, oder?“
Greta lächelte sie zärtlich an und nickte. „Du weißt, dass du mir alles anvertrauen kannst?“
Das junge Mädchen zögerte mit der Antwort.
„Ich fühle mich dir mehr verpflichtet als den Göttern, cara mia, ich bin eine Nymphe. Eine lokale sterbliche Gottheit.“
Die Halbgöttin sah auf, ahnte Greta etwas? Was wollte sie ihr sagen? Die Flussnymphe sprach weiter und sah sie eindringlich an. „Komm zu mir, falls du Schutz brauchst. Vor wem auch immer, ich habe viele Verbindungen, zu allen Seiten, auch zu den Kelten.“
Mirabella überlegte einen Moment, dann nickte sie. „Die Kelten… Vielleicht brauche ich tatsächlich irgendwann Asyl.“
Greta nahm wortlos die Briefe an sich.
„Wo wirst du sie aufbewahren?“
„Das werde ich dir nicht sagen.“ Im gleichen Moment verschwanden sie aus ihren Händen und Mirabella staunte erneut über die vielseitigen Fähigkeiten ihres Kindermädchens.
„Sicher, dass du nicht Mary Poppins bist?“
„Nicht auszuschließen!“, entgegnete sie lachend und Mirabella ging in ihr Zimmer, um sich für den Halbgötter-Stammtisch umzuziehen.
Auf dem Weg nach Stonehenge zerbrach sie sich den Kopf, was sie Lorenzo sagen könnte, um ihn aufzumuntern, ihn um Freundschaft zu bitten, ohne neue Hoffnungen zu sähen. Aufgeregt schlüpfte sie durch Loch sieben, nur um festzustellen, dass er nicht da war. Lange hatte sie überlegt, eine Nachricht zu schreiben. Sie würde auch auf den Stammtisch verzichten, wenn er lieber alleine hingehen würde. Ihr war dann jedoch die Rollenverteilung für das Theaterstück eingefallen, heute war der wichtige Termin für die weitere Planung der Auftritte, daher hatte sie gehofft, er wäre vielleicht schon so weit, ihr gegenübertreten zu können. Zugegebenermaßen waren erst zwei Wochen seit der Trennung vergangen, zum Tanzkurs war er selbstverständlich auch nicht gekommen, hatte einen Einzeiler geschrieben, dass er verhindert wäre.
Hannah, Leon, Terra, Ragnar und Kyell waren bereits eingetroffen und Mirabella fiel zum ersten Mal auf, dass sie sich auf keltischem Boden befanden, ohne dass Kelten anwesend waren.
Nachdem sie alle begrüßt hatte, fragte sie in die Runde. „Kennt einer von euch eigentlich keltische Halbgötter in unserem Alter?“
Kyell nickte, während die anderen den Kopf schüttelten. „Eine Tochter von Fand, Niamh.“
„Wir sollten sie hierher einladen, findet ihr nicht?“
Ragnar nickte. „Warum nicht? Wie es scheint, schwinden unsere Mitglieder dahin…“
Mirabella errötete bei der Aussage und kam schnell auf die Rollenverteilung des Theaterstückes zu sprechen. Sie wartete auf einen günstigen Augenblick, um Ragnar flüsternd zu fragen, ob Lorenzo käme. Er schüttelte den Kopf.
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