»Was machst du denn da, du Range?«
Bärbel wäre beinahe vom Zaune gefallen. Jetzt stand die kleine Sünderin mit ängstlichem Gesicht vor dem Zürnenden.
»Sind das deine Sträucher?«
Bärbel vermochte nicht zu antworten, das Herz klopfte zu mächtig, und der drohend erhobene Stock ängstigte sie.
»Bist du nicht die Kleine vom Apotheker? – Was fällt dir denn ein, in meinen Garten zu kommen und Blumen fortzunehmen? Habt ihr daheim nicht genug Sträucher?«
Noch immer stand die Kleine auf dem Zaun.
»Komm herunter!«
Goldköpfchen hielt ihre Blumen fest im Arm. Alles hätte sie hergegeben, nur nicht diese goldenen Blüten.
Schließlich kam der fremde Mann doch näher heran, griff nach dem aufschreienden Kinde und hob es vom Zaune herab.
»Was fällt dir denn ein, heimlich in meinen Garten zu kommen und Blumen zu pflücken? Ist das recht? – Darf das ein artiges Kind tun?«
Bärbel schwieg verängstigt.
»Warum hast du die Blumen abgebrochen?«
Wie gern hätte Goldköpfchen die Aufklärung gegeben, aber der Onkel Provisor hatte doch gesagt, daß man schweigen müsse. So schlossen sich die schon geöffneten Lippen aufs neue.
Da faßte sie der Herr am Arm und schüttelte sie kräftig.
»Kannst du dich nicht einmal entschuldigen? Du bist genau so unartig wie dein Bruder! Na warte, ich werde es deinem Vater erzählen, der mag dir die Prügel geben, die du verdienst. – Nun geh!«
Mit einem unglücklichen Blick schaute das kleine Mädchen dem Zürnenden in die Augen.
»Bärbel will die schönen Blumen nicht für Bärbel haben, ich – ich …« nun schluchzte sie laut auf.
»Willst du sie vielleicht gleich wieder fortwerfen?«
Goldköpfchen schüttelte heftig den Kopf.
»Wer soll denn den Goldregen bekommen?« Der Zorn des alten Herrn hatte sich bereits ein wenig gelegt, als er in das tränenüberströmte Kindergesichtchen schaute. »Vielleicht die Mutti oder die beiden kleinen Brüderchen?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Na, dann lauf; aber in Zukunft laß meine Sträucher in Ruhe. Ihr habt selbst genug im Garten.«
Bekümmert eilte Bärbel davon. Nur als die Augen wieder auf die gelben Blüten fielen, hellte sich ihr Blick wieder auf.
Doch jetzt wurde ihr plötzlich klar, daß sie gar nicht wußte, wem sie den Goldregen zu bringen hatte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ins Elternhaus zurückzukehren und den Onkel Provisor zu fragen, wo das weinende Mädchen wohne.
Als Bärbel den Vorgarten betrat, lief ihr Lina mit zürnendem Gesicht entgegen.
»Eine Viertelstunde suche ich doch schon! – Meine Güte, wie siehst du denn aus! – Wo warst du denn, du Unart?«
Ehe Bärbel eine Antwort geben konnte, stand der Vater vor ihr.
»Sollst du von Hause fortlaufen?« sagte er grollend.
Er sah in das beschmutzte Kindergesicht, denn Bärbel hatte die Tränen mit den unsauber gewordenen Händen abgewischt.
»Wo bist du gewesen?« wiederholte der Vater streng.
Aufs neue begann Bärbel zu weinen. Sie war von der Begegnung mit dem fremden Herrn noch so sehr verängstigt, daß sie kein hartes Wort hören konnte.
»Bärbel hat den Goldregen für den alten Großvater und die kranke Mutti geholt.«
»Für welchen Großvater? – Was sind das für dumme Streiche, Bärbel?«
»Bärbel will doch helfen«, weinte das Kind, »der Onkel Provisor hat es gesagt.«
Senftleben, der ebenfalls in der Apotheke war und das Schluchzen gehört hatte, war in die Tür getreten und vernahm die letzten Worte. Im ersten Augenblick war ihm nicht klar, was Bärbel meinte.
Aber bald stellte es sich heraus, daß er den Goldregen als einziges Mittel zur Linderung der Not bei der armen Familie Tischbein genannt hatte.
Noch stand Goldköpfchen schuldbewußt vor dem Vater, den Goldregen fest an sich gepreßt. Sie erwartete eine Strafe und begriff nicht, daß sie plötzlich hochgenommen und herzlich geküßt wurde.
»Mein Goldköpfchen mit dem goldenen Herzen«, sagte er tiefbewegt, »du hast es gut gemeint, aber du hättest nicht heimlich fortgehen sollen.«
»Man darf es doch nicht sagen«, flüsterte die Kleine leise.
Wieder fühlte sie die Lippen des Vaters auf ihrer Stirn, und das war ihr ein solcher Trost für all die ausgestandene Angst, daß sie sich in inniger Zärtlichkeit an den Vater schmiegte und ihm ins Ohr flüsterte:
»Wird nun die fremde Mutti und der alte Großvati wieder gesund?«
»Jawohl, mein Goldköpfchen«, sagte Wagner ernst, »du bist deinem Vater heute zum Vorbilde geworden. Heimlich helfen, keinem davon etwas sagen und den armen Leuten nach Möglichkeit den Goldregen bringen.«
Bärbel bekam heute nicht einmal Vorwürfe wegen des stark zerrissenen Kleides. Sie mußte erzählen, wo sie den Goldregen hergenommen hatte, und berichtete gewissenhaft von der Schelte, die sie dafür erhalten hatte.
»Mein kleines, tapferes Mädchen, heute nachmittag gehen wir zusammen aus und bringen deinen Goldregen der kranken Mutti und dem alten Großvater.«
»Wird sie dann gesund, Vati?«
»Ja, mein liebes Kind, dein Goldregen wird ihr helfen.«
Kurz vor dem Ausgange gab es für Bärbel noch eine ganz besondere Überraschung. Der böse Herr, dem der Garten mit den blühenden Sträuchern gehörte, kam in die Apotheke; und schließlich rief man Goldköpfchen, dessen Herz vor Schreck fast stillstand, als es den Garteninhaber erkannte.
Aber er schalt jetzt nicht mehr. Er brachte für das Kind eine Schachtel, in der viele kleine Tiere lagen, die aufzustellen gingen.
»Das schenke ich dir, du kleines Mädchen mit dem goldenen Herzen und dem goldenen Köpfchen, für die Angst, die du heute früh ausgestanden hast.«
Da saß nun Bärbel, hielt die Schachtel mit den schönen Tieren im Arm und dachte darüber nach, warum der fremde Mann erst so böse gewesen war und dann solche Freude bereitete. Aber das Kind fand die Lösung des Rätsels nicht.
Es wurde Bärbel auch nicht klar, warum sich die kranke, fremde Frau so sehr über den Goldregen freute und Bärbel wieder die Hand drückte. Nur das eine war gewiß, daß die gelben Blüten Wunderblumen sein mußten, weil die Kinder jener fremden Frau gar nicht mehr traurig waren, und weil auch der alte Großvater so verklärt lächelte. Und in Bärbels kleinem Herzen war eine jauchzende Freude darüber, daß es doch den Goldregen wohlbehalten in das Haus der armen Leute getragen hatte.
Das kleine Erlebnis mit dem Goldregen, der Besuch bei der Familie Tischbein hatten auf Goldköpfchen einen nachhaltigen Eindruck gemacht. Die Kleine war schon immer nachdenklich gewesen, jetzt aber schien sie geradezu über die verschiedensten Dinge nachzugrübeln. Immer wieder ließ sie sich von der Großmama Geschichten erzählen, in denen einer dem anderen geholfen hatte; und wenn es nicht geschah, konnte das kleine Mädchen recht böse werden. Oft äußerte Bärbel, daß sie, wenn sie erst recht groß sei, jeden Tag allen Menschen helfen wolle, damit sich alle Kinder genau so freuen könnten wie kürzlich die Kinder der Familie Tischbein.
Apotheker Wagner hatte auch wirklich einen kleinen Goldregen über die Familie niedergehen lassen. Er hatte nach Möglichkeit geholfen, hatte dafür gesorgt, daß die Frau in ein Erholungsheim kam, und daß währenddessen die Kinder gute Pflege hatten. Nun war er dabei, der Familie eine Existenz zu schaffen, und setzte sich dafür mit aller Energie ein. Sprach man ihm dafür anerkennende Worte aus, wies er jedes Lob zurück mit dem Bemerken, daß man es einzig und allein seinem Goldköpfchen zu danken habe, wenn bei Tischbeins die Not aus dem Hause gejagt werde.
So war das kleine Mädchen des Apothekenbesitzers Wagner eine ganze Zeit lang in Dillstadt zum Gesprächsstoff geworden, und Bärbel hatte manch eine Tafel Schokolade erhalten.
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