»Nein, nein«, rief sie heftig, »ich will nicht noch einmal ein Zwilling, wir haben genug, Vati!«
Herr Wagner lächelte. »Ich habe eine viel schönere Überraschung für dich. – Heute abend kommt Besuch, und zwar die liebe Großmama aus Dresden.«
»Ooch!«
»Nicht wahr, das ist eine große Freude? Nun aber mußt du auch dein Brötchen essen.«
»Die Großmama«, wiederholte Bärbel, und alle Freude ihres Kinderherzens zitterte durch diese Worte.
»Nun iß brav.«
Bärbel biß gehorsam in das Brötchen, dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich kann nicht, Vati, mein Bauch ist ganz voll Freude, da ist kein Platz mehr für das Brötchen.«
»Die Freude läßt sich ein wenig zusammendrücken, Bärbel.«
Sie faltete die kleinen Händchen über dem Leib. »Nein, Vati, die Freude ist überall, in jeder Ecke. – O, der Bauch ist ganz dick und voll! Kommt die Mutti heute auch wieder zu Bärbel?«
»Nein, Bärbel, die Mutti ist noch sehr krank, und der Onkel Professor meint, sie muß noch viele Tage im Bett bleiben.«
»Ja, – wenn es der Onkel Provisor meint, muß sie wohl im Bett bleiben. – Wann kommt die Großmama?«
»Heute abend, mein Kind.«
»Weiß du, Väterchen, warum die Mutti so krank ist? Die kleinen Lausebengel haben zu sehr geschrien.«
»Aber Bärbel!«
»Freilich, Bärbel hat sie gehört, und darum ist Bärbel auch krank geworden.«
»Nicht doch, Bärbel, die Brüderchen machen der Mutti viel Freude. Weißt du denn auch schon, was die Brüderchen für Namen haben?«
»Hektor und Mieze!«
»Das geht nicht, das sind doch keine Namen für kleine Jungen. Der eine heißt Martin und der andere Kuno.«
Bärbel verzog das Gesicht. »Wenn er Mieze geheißen hätte, hätte ich ihn viel lieber gehabt. Ist er immer noch barfuß auf dem Kopfe?«
»Warte es nur ab, Bärbel, – bald werden dir die Brüderchen so viele Freude machen, daß du gern mit ihnen spielen wirst. Ich schicke jetzt den Joachim her, der soll dir ein Märchen vorlesen.«
»Ach ja, von Rotkäppchen, wie der Wolf den Schlafanzug seiner Großmama anzog.«
»Ich werde Joachim sagen, daß er dir ein ganzes Märchen vorlesen soll, und daß er nicht eher fortlaufen darf.«
Mit wenig freundlichem Gesicht trat zehn Minuten später Joachim ins Zimmer, ein Buch unter dem Arm.
Bärbel blickte ihn verklärt an.
»Du, – lies vom Rotkäppchen und dem Wolf.«
»Das ist ja Quatsch!«
»Vom Schneewittchen.«
»Stuß!«
»Was willst du denn dann vorlesen?« fragte Bärbel argwöhnisch.
»Wart’ es doch ab!«
Damit setzte sich der Knabe ans Fenster, schlug das mitgebrachte Buch auf und fing mitten aus einer Indianergeschichte an, der kleinen Schwester vorzulesen. Es war doch ganz einerlei, was die dumme Göhre hörte.
Bärbel unterbrach ihn sehr bald. »Das ist nicht schön, – Bärbel will von Rotkäppchen und dem Wolf.«
Joachim ließ sich nicht beirren. Er las weiter, und als er abermals unterbrochen wurde, meinte er patzig: »Wenn du jetzt nicht stille bist, lese ich dir gar nichts vor.«
»Du bist auch ein Lausebengel«, sagte Bärbel seufzend, legte sich in die Kissen zurück und unterhielt sich mit ihrer Puppe.
Kurze Zeit darauf ertönte vor dem Fenster ein langgezogener, schriller Pfiff. Joachim schaute hinaus, klappte das Buch zu und stürmte zur Tür hinaus, denn unten stand sein bester Freund Emil. Er hatte zwar das eine Auge verbunden, doch sehnte er sich bereits wieder nach seinem Spielgefährten.
Kurz vor dem Abendessen kam Lina, die im Kinderzimmer rasch noch etwas Ordnung machte.
»Die Großmutti wird gleich hier sein, Bärbel.«
»Das ist keine Großmutti, das ist eine Großmama«, verbesserte das Kind. »Ob sie Bärbel etwas mitbringt?«
»Das macht sie doch immer, Goldköpfchen! Wenn du artig bist, bekommst du gewiß etwas sehr Schönes.«
»Dann sage nur der Großmama, wo ich jetzt wohne, damit sie mich findet. – Kommt sie bald?«
Lina wies auf den Zeiger der Uhr. »Wenn er bis hier oben gelaufen ist, ist die Großmutti da.«
Von nun an verfolgte Bärbel den langsam wandernden Zeiger der Uhr mit peinlicher Gewissenhaftigkeit. Lina war gegangen, Bärbel war allein.
Gar zu gern hätte sie den Zeiger ein wenig weitergeschoben, aber die Uhr hing hoch, es würde ihr nicht gelingen, den Zeiger zu erreichen. Wohl versuchte sie es. Sie kletterte aus dem Bett, auf den Stuhl; aber alle Versuche blieben erfolglos.
Nur ganz langsam schritt die Zeit vorwärts, bis endlich Bärbel ein mehrfaches Treppauf, Treppab hörte. – Jetzt mußte die Großmama gekommen sein!
Sie kam auch endlich ins Kinderzimmer. Bärbel umhalste die geliebte Großmama stürmisch.
»Bleibst du jetzt so lange da, bis die Mutti wieder gesund ist?«
»Natürlich, mein liebes Goldköpfchen, vielleicht noch länger.«
Bärbel schielte auf die große Schachtel, die die Großmama auf den Tisch gestellt hatte.
»Ist das da für Bärbel?«
»Bist du auch immer artig gewesen?«
»Es reicht!«
»Was meinst du wohl, was ich dir mitgebracht habe?«
Bärbel glühte vor Aufregung. Sie wandte die Augen nicht mehr von dem Paket. Da mochte Frau Lindberg die Kleine nicht länger auf die Folter spannen. Aus dem Karton kam eine prächtige Puppe zum Vorschein.
Das Kind jauchzte hell auf. Eine Puppe, die ein so schönes Gesicht hatte wie diese, besaß sie noch nicht. Dazu das blaue Kleid mit gelben Spitzen, – es war eine Pracht! Die Puppe hatte Schuhe und Strümpfe an, weiße Höschen und darüber ein Spitzenunterröckchen.
Bärbel vergaß beinahe das Danken. Sie küßte ihr neues Puppenkind; und erst als der Vater, der schon ein ganzes Weilchen in der Tür stand, sein Töchterchen daran erinnerte, daß man für Geschenke zu danken habe, sagte Bärbel:
»Wir haben uns eine große Freude gemacht, Großmama. – Weißt du, wir freuen uns über die Puppe viel mehr wie über das Zwilling.«
Im Kinderzimmer wurde auch Lina beschenkt. Frau Lindberg brachte zwei große Schürzen mit, breitete sie vor dem Hausmädchen aus und sagte, Lina möge sich eine wählen. Die Schürzen seien zur Auswahl hier, eine davon würde wieder zurückgehen.
Aufmerksam hatte Bärbel zugehört; nun winkte sie die Großmama heran. »Schickst du eins davon wieder zurück«, sagte sie, indem sie auf die Schürzen wies.
»Die eine nehme ich wieder mit, Goldköpfchen.«
»Ach, Großmama, dann ist wohl das Zwilling auch nur zur Auswahl hier? Dann schicken wir den ohne Haare wieder weg! Ein Glück, daß wir dann wieder unter uns sind!«
Es war an diesem Abend sehr schwierig, das erregte Kind zum Schlafen zu veranlassen. Lina brachte es nicht fertig, und so mußte die Großmama gerufen werden, damit sie Bärbel zur Ruhe bringe.
Frau Lindberg war eine ruhige und kluge Dame, die es prachtvoll verstand, mit Kindern umzugehen. Zunächst wurde die neue Puppe schlafen gelegt, dann kam Bärbel an die Reihe.
»So, nun kommt der Schutzengel, bleibt die Nacht über bei dir und behütet dich. Und wenn Joachim nachher kommt, schläfst du schon fest.«
»Ach«, sagte die Kleine fast kläglich, »wenn man nicht ganz artig war, kommt das Schutzengelchen und schließt die Augen so fest zu, daß man sie morgen gar nicht mehr aufkriegt, wie es der Joachim mit der Kellertür gemacht hat.«
Wieder mußte Frau Lindberg eine Erklärung geben, ehe sich Goldköpfchen beruhigt hatte. Schließlich, als sich nun die Großmama nochmals über das Kind neigte, um Goldköpfchen einen Gute-Nacht-Kuß zu geben, bemerkte die Kleine ein Medaillon, das um den Hals der Frau Lindberg hing.
»Was ist denn das, Großmama?«
»Das kann man aufmachen.«
»Ach, mach’ doch mal auf!«
Geduldig öffnete Frau Lindberg die Kapsel, in der sich ein kleines Bild ihres verstorbenen Gatten und eine Haarlocke befand.
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