»Weißt du so einen, Großmama?«
»Freilich, bei mir daheim, in Dresden, ist ein altes Fräulein, das wohnt allein.«
»Ich hab’s«, sagte das Kind strahlend. »Wir gehen setzt rasch heim und schenken ihr das Zwilling.«
»Aber mein Kind, das sind doch deine Brüderchen.«
Erstaunt schaute die Kleine die Großmutter an. »Du hast doch gesagt, man soll etwas schenken, was einem ganz lieb ist?«
Da sah Frau Lindberg ein, daß es nicht so einfach war, einem vierjährigen Mädchen klarzumachen, was man unter Hilfsbereitschaft zu verstehen hatte. Sie wußte wohl, daß Bärbel ein goldenes Herz hatte, und daher hieß es doppelt vorsichtig sein, um die Kleine nicht zu einer unüberlegten Handlung anzuregen.
Bärbel stand schon ein ganzes Weilchen regungslos, fest an den Türpfosten gedrückt. Irgendein Gefühl, das dem Kinde bisher unbekannt gewesen war, beherrschte es. Am liebsten hätte Bärbel geweint, aber es wagte nicht, den Tränen freien Lauf zu lassen; das Kind ängstigte sich vor etwas Unbekanntem, und die kleinen Händchen krallten sich in seelischer Erregung fest ineinander.
Bärbel begriff nicht, was hier in der Apotheke der Onkel Provisor mit dem großen Mädchen sprach. Sie sah wohl, daß jener immer wieder die Tränen aus den Augen rollten, Bärbel hörte die tröstenden Worte Senftlebens und erschrak, wenn in stoßweisem Schluchzen aus dem Munde der vierzehnjährigen Gertrud die Worte erklangen: »Sie wird auch sterben, dann sind wir ganz allein!«
Der Provisor hatte dem Mädchen eine Flasche in die Hand gedrückt, er versprach ihm auch, mit Herrn Wagner Rücksprache zu nehmen, man würde gewiß helfen.
Bärbel traute sich erst vor, als der Onkel Provisor wieder bei anderer Arbeit war. Nun aber hielt sie mit ihrer Neugierde nicht länger zurück.
»Warum hat das große Mädchen geweint?«
»Es hat eine kranke Mutter, Goldköpfchen, einen sehr kranken Großpapa und noch viele kleine Geschwister. Die armen Kinder haben nichts zu essen.«
»Da hast du ihnen eine Flasche gegeben?«
»Das ist Medizin gewesen, für die kranke Mutter.«
»Wird sie nun wieder gesund, Onkel Provisor?«
»Hoffentlich.«
»Wenn sie aber stirbt? Dann ist das große Mädchen allein?«
»Wir wollen versuchen, der armen Frau zu helfen. Die Leute sind sehr bedürftig. – Denke dir nur, Goldköpfchen, die Kinder dort bekommen keine Butterbrötchen, keine Wurst darauf, und kein Fleisch. Die essen immer nur Suppen aus Brotrinden.«
Bärbel verzog das Gesicht. »Ach – Suppe aus Brotrinden!«
»Nicht wahr, Goldköpfchen, das ist schlimm. – Die armen Leute haben gar kein Geld. Früher hatten sie auch einmal recht viel, aber heute haben sie gar nichts mehr.«
»Hat der Vati denn Geld?«
»Jawohl, mein Kind.«
»Dann soll ihnen der Vati Geld geben.«
»Mit etwas Geld ist den Leuten nicht geholfen. Dort ist so große Not, daß ein tüchtiger Goldregen über die Familie niedergehen müßte. Außerdem wollen die Leute gar nicht, daß alle Leute wissen, wie schlecht es ihnen geht. Du darfst darüber auch nicht reden, Goldköpfchen.«
»Haut mich dann das große Mädchen?«
»Nun, das wird die nicht tun; aber wenn Leute sehr arm sind, wollen sie nicht, daß man davon spricht.«
»Aber einen Goldregen wollen sie?«
»Der könnte schon helfen.«
Bärbel wurde nachdenklich. Beim gestrigen Spaziergange mit der Großmama war man an einem Garten vorübergekommen, in dem schöne Sträucher geblüht hatten. Ganz goldgelb sahen die Blüten aus, die in langen Trauben an den Zweigen hingen; die Großmama hatte Bärbel gesagt, daß dies Goldregen sei. Das Kind hatte den Namen nicht vergessen. – Dieser Goldregen sollte den armen Leuten helfen? Sollte es ermöglichen, daß das große Mädchen nicht mehr zu weinen brauchte?
Bärbel stand vor einem neuen Rätsel. Aber dann fiel ihr ein, daß der Onkel Provisor ihr einmal Blumen gezeigt hatte, die den Kranken auch helfen sollten. Diese Blumen waren in der Apotheke geblieben; vielleicht hatte es mit dem Goldregen die gleiche Bewandtnis.
Sie wollte den Onkel Provisor noch weiter ausfragen; aber die Apotheke füllte sich mit Kunden, daher zog sich Bärbel schweigend zurück.
Am liebsten wäre das kleine Mädchen nun sogleich zum Vater gegangen, um ihm zu sagen, daß er dem weinenden Mädchen doch helfen solle.
Dann hielt es Bärbel aber für ratsamer, die Großmama zu bitten, sie möge heute nochmals mit ihr zu jenem großen Garten mit den gelbblühenden Sträuchern geben.
Sie verwarf aber beide Pläne, denn der Onkel Provisor hatte gesagt, daß man von diesen Sachen zu anderen Leuten nicht reden dürfe. Ein einziges Mal hatte sie dem Vater berichtet, daß Joachim von den Bäumen draußen Zweige abgebrochen hatte, sie hatte dafür von dem Bruder tüchtige Schläge bekommen, und darum fürchtete Bärbel auch jetzt, daß ein vorlautes Wort ihr gleichfalls eine Tracht Prügel eintragen könnte.
Ein Goldregen würde helfen! Diese Worte des Onkels Provisor gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn. Wenn sie dem weinenden Mädchen die goldgelben Blüten brachte, würde die kranke Mutter gewiß wieder gesund werden.
In Bärbels Herz zog ein Gefühl namenlosen Glücks ein. Wie würden sich die vielen kleinen Kinder freuen, wenn die kranke Mutti wieder gesund würde. Vielleicht konnte auch der kranke Großvater mit von dem Goldregen essen und bald wieder aufstehen. O, wie schön mußte es sein, diesen armen Leuten ganz heimlich den Goldregen zu bringen. Dann würden alle Kinder sehr vergnügt und lustig »Häschen in der Grube« spielen, und der Großvater konnte vielleicht bald wieder mitspielen.
Wenn aber ein Goldregen half, warum ging das weinende große Mädchen nicht in den Garten mit den Sträuchern und holte die schönen Blüten? – Auch darüber dachte Bärbel lange nach und kam schließlich zu der Überzeugung, jenes fremde Mädchen würde den Garten mit dem Goldregen gar nicht kennen.
Wie gern hätte sie von ihrem Plan, der in dem kleinen Köpfchen reifte, zu einem Menschen gesprochen. Dem Kinde bangte ein wenig, ganz alleine von Hause fortzugehen, um die gelben Blüten zu holen. Aber schließlich überwog das Mitleid die Furcht, Bärbel verließ das Haus, blieb auf der Straße nochmals nachdenklich stehen, dann eilte sie davon.
Es machte dem Kinde keine Schwierigkeiten, den Weg nach jenem Garten zu finden. Es wußte genau, wo es zu gehen hatte, und obwohl es manchmal von Vorübergehenden verwundert angeschaut wurde, ließ sich Goldköpfchen nicht beirren. Es lief eiligst weiter, bis der große Gitterzaun erreicht war, hinter dem die goldgelb blühenden Sträucher lockten.
Nun aber stand Bärbel vor einer neuen Schwierigkeit. Das große Tor war anscheinend verschlossen, denn die schwere Tür bewegte sich nicht, obgleich sich Bärbel mit allen Kräften dagegenstemmte. Von der Straße aus waren die gelben Blüten nicht zu erreichen, und doch wollte Goldköpfchen den Goldregen haben, der der fremden Mutti und dem kranken Großvati half.
Nach kurzem Überlegen entschied sich das Kind, am Zaune hochzuklettern. Das ging prächtig, nur eine der spitzen Zacken hielt das helle Kleidchen fest, und als das kleine Mädchen energisch daran zerrte, gab es einen Riß. Daran dachte die Kleine zunächst nicht; all ihr Trachten stand nach den gelben Blüten.
Bärbel war endlich über den Zaun geklettert, aber – o weh, die Sträucher waren viel zu hoch, die Blüten nicht erreichbar. Da mußte sie eben nochmals klettern, wie sie das so oft mit Bruder Joachim tat.
Nochmals wurde der Eisenzaun bestiegen. Bärbel turnte darauf herum, bis es ihr schließlich gelang, die ersten Blüten zu brechen.
Das Kind hatte von der Anstrengung hochrote Wangen, es achtete auch nicht der Gefahr, in der es schwebte. Die beiden Händchen griffen nach den Zweigen, ein Brechen, ein Knacken, Bärbel hatte bereits einen ganzen Busch dieser Blüten im Arm, als sie erschreckt zusammenzuckte, denn dicht vor ihr stand ein Herr, der seinen Spazierstock drohend erhob.
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