»Hat es ihr der Vati schon gesagt? Bärbel wollte lieber ein Ziegenböckchen haben, aber nun will ich auch ein Schwesterchen.«
»Nun, vielleicht kriegt die Mutti aber auch ein Söhnlein.«
»Was kriegt sie?«
»Einen Sohn, einen kleinen Sohn, – ein Söhnlein.«
»Ach, – ich will kein Söhnlein, ich will eine kleine Schwester!«
»Da kümm’re dich nur nicht drum, Bärbel, das besorgt der Vati.«
Die Bemerkung der Köchin wollte Bärbel nicht aus dem Sinn. Ein Söhnlein wollte sie nicht. Wenn es durchaus kein Ziegenböckchen gab, dann sollte es ein Schwesterchen sein. Ob ihr da vielleicht der gute Onkel Provisor helfen konnte?
Sie lief wieder hinab, schaute vorsichtig durch die Scheiben der Glastür, die nach der Apotheke führte, sah dort aber nur den Vater, der soeben einer Frau ein Fläschchen reichte. Vielleicht war der Onkel Provisor hinten in dem großen Schuppen.
Bärbel huschte über den Hof, schlängelte sich durch aufgestapelte Kisten und Körbe hindurch und erblickte endlich ihren großen Freund, der sorgfältig einen Glasballon auspackte. Der Hausdiener Felix war ihm dabei behilflich.
Bärbel legte die Hände auf den Rücken und schaute zunächst den beiden Männern schweigend zu. Dann schweiften die blauen Kinderaugen über Kisten und Kasten hinweg und blieben an einem Deckel haften, auf dem Flaschen aufgezeichnet waren. Sie tippte mit dem Finger darauf und wandte sich fragend an den Provisor:
»Sind in der großen Kiste nur Flaschen?«
»Jawohl, Goldköpfchen.«
»Sag’ doch mal, Onkel Provisor, bekommst du auch die Kiste, in der mein Schwesterchen eingepackt ist?«
»Das Schwesterchen kommt in keiner Kiste, aber vielleicht ist es ein Brüderchen.«
»Kommen die Brüderchen in einer Kiste?«
»Auch nicht.«
»Wenn es nun aber ein Söhnlein wird, kommt das in einer Kiste?«
Der junge Apotheker tippte auf den Deckel, auf dem die Flaschen gezeichnet waren. »Das Söhnlein ist hier.«
Bärbel erstarrte. In der großen Kiste sollte das Söhnlein liegen?
Der übermütige Provisor trat zu dem Kinde, wies mit dem Finger auf einige, der Kleinen unverständliche Zeichen und sagte: »Sieh mal, Goldköpfchen, hier steht es. Söhnlein!«
Bärbel gab keine Antwort. Sie war so erstaunt, daß in dieser Holzkiste das Söhnlein lag, das die Mutter erwartete, daß es ihr fast die Sprache verschlug.
Endlich fragte sie gepreßt. »Onkel Provisor, – nimm doch das Söhnlein einmal heraus!«
»Später, kleines Mädchen, jetzt muß es noch drin bleiben.«
Bärbel ging davon. Ob sie auch in solch einer Kiste gelegen hatte? Aber am meisten Kummer bereitete es ihr, daß sich der Vati ein Söhnlein bestellt hatte und kein Schwesterchen. Sie kehrte in die Küche zurück, kletterte schweigend auf den Küchenschemel, und plötzlich fielen große Tränen aus den blauen Augen.
Wanda hörte das jammervolle Schluchzen, wandte sich um und sah Goldköpfchen, das sich mit unsauberen Fingern die Tränen aus den Augen wischte.
»Nanu, Bärbel, was ist denn geschehen?«
»Das Söhnlein ist schon da, und Bärbel wollte doch ein Schwesterchen haben.«
»Was – ein Junge!« rief die Köchin stürmisch.
Dann rief sie laut nach dem Hausmädchen und verkündete: »Die gnädige Frau hat einen Jungen bekommen!«
»Und der Herr ist in der Apotheke und weiß nichts! Wer ist denn bei ihr?«
Nun gab es ein wildes Durcheinander. Der Apothekenbesitzer starrte sein erregtes Hausmädchen, das ihm die Nachricht brachte, an, als habe jenes plötzlich den Verstand verloren. Dann ließ er alles liegen und stehen und eilte mit raschen Sprüngen in das Schlafzimmer der Gattin hinauf, die sich ein wenig niedergelegt hatte. Es dauerte eine ganze Weile, ehe man der Sache auf den Grund kam, daß die Kiste mit dem »Söhnlein-Sekt« die Urheberin der verfrühten Botschaft war.
Trotzdem blieb ein Argwohn in Bärbel zurück. Sie war schon längst dahintergekommen, daß man ihr manches verschwieg. Die Kiste im Schuppen wurde nach wie vor von ihr mit mißtrauischen Blicken betrachtet. Zwar konnte sie sich keine rechte Vorstellung machen, was ein Söhnlein sei; aber soviel stand fest, daß diese Kiste irgend etwas Unangenehmes barg, und daß eines Tages doch ein garstiges Söhnlein, was sie nicht haben wollte, herauskletterte. Sie wünschte, daß der Hausdiener diese Kiste niemals öffnen möge, damit der unerbetene Spielgefährte vorläufig gefangengehalten bliebe.
Daß ihr die Mutti heute abend beim Zubettgehen keinen Gute-Nacht-Kuß gab, war für Bärbel eine schwere Enttäuschung. Sie hatte auch nicht einmal in Muttis Zimmer gedurft, sie hatte aber gehört, daß der Onkel Doktor noch spät zu Besuch gekommen war.
Das alles wirbelte in dem kleinen Köpfchen wild durcheinander. Viele Fragen hatte sie gestellt, aber eine befriedigende Antwort war ihr nicht geworden, und selbst Bruder Joachim hatte nur pfiffig gelächelt und gemeint: so etwas ist nichts für kleine Mädchen.
Bärbel konnte lange nicht einschlafen. Sie hörte, daß man mehrfach die Treppe hinauf und hinab lief. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hinüber ins Schlafzimmer der Eltern gegangen; aber Lina kam jeden Augenblick und gebot energisch, Bärbel möge endlich schlafen.
»Wenn ich jetzt brav schlafe, bekomme ich vielleicht doch noch ein Ziegenböckchen?«
»Wenn du brav einschläfst, sage ich es morgen dem Vati, daß du artig warst, dann suche ich dir zwei Maikäfer.«
»O ja – Maikäfer«, wiederholte die Kleine schwärmerisch. »Maikäfer, die ich fliegen lassen kann und die so schön brummen.«
In der seligen Hoffnung, morgen Maikäfer zu bekommen, schlief Goldköpfchen bald ruhig ein.
Die Sonne lachte hell ins Zimmer, als Bärbel am anderen Morgen erwachte. Es dauerte eine ganze Weile, ehe das Kind die veränderte Sachlage begriff. Sonst stand das weiße Bettchen im Schlafzimmer der Eltern; aber gestern war es hinausgerollt worden zu Bruder Joachim.
Bärbel hob den Kopf und schaute zum Lager des Bruders hinüber. Es war leer. Da wurde der Kleinen ängstlich zumute, und laut rief es nach Lina.
Statt Lina erschien der Vater, der seine kleine Tochter zärtlich emporhob und an seine breite Brust drückte.
Staunend schaute Goldköpfchen den Vater in die Augen. »Du siehst aus, Vati, als ob deine Augen angezündet sind.«
»Vati freut sich heute sehr, kleine Bärbel, denn Vati hat etwas Wunderschönes geschenkt bekommen.«
»Bärbel ist artig gewesen und möchte auch etwas geschenkt bekommen. – Hat die Lina die Maikäfer gebracht?«
»Lina nicht, aber der Himmel hat zwei hübsche Maikäfer in Muttis Bett gelegt.«
»O«, jauchzte das Kind, »die krabbeln so doll!«
»Jetzt höre einmal ganz brav zu, Bärbelchen. Du hast dir doch gestern ein Brüderchen gewünscht.«
»Ein Ziegenböckchen«, beharrte das Kind.
»Nein, einen kleinen Spielgefährten.«
»Bärbel will ein Schwesterchen haben.«
»Die gute Mutti hat aber gemeint, es ist viel netter, wenn du statt einem Schwesterchen zwei Brüderchen bekommst.«
»Zwei?« fragte Bärbel und zog die Lippe hoch.
»Zwei niedliche Brüderchen. Du darfst sie dir nachher ansehen.«
In Bärbels Augen kam ein nachdenklicher Ausdruck. Die große Kiste stand wieder vor ihren Augen. Jetzt schien sie es ergründet zu haben, daß ein Söhnlein zwei Brüderchen waren.
»Ich hab’s gewußt, Vati«, sagte sie. »Ich habe die Kiste mit dem Söhnlein gesehen.«
»Das ist kein Söhnlein, mein liebes Kind, das sind Zwillinge.«
Wieder maßloses Staunen; dann erklärte Bärbel, es wolle die Zwillinge sehen.
»Laß dich von Lina ankleiden, dann darfst du zur Mutti kommen.«
Das Ankleiden war heute nicht ganz leicht. Das kleine Mädchen zappelte vor Ungeduld und wollte von Lina wissen, wie ein Zwilling aussähe. Ihre Gedanken rankten sich um den Zwieback, den es an jedem Morgen aß, und Lina hatte Mühe, den Unterschied von Zwieback und Zwillingen dem Kinde klarzumachen.
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