Paula atmete erleichtert auf. „Wird sie wieder gesund?“
„Ich hoffe es. Die Wirbelverletzung ist nicht ganz so gravierend wie ich befürchtet habe.“ Er ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und nahm sich eins der belegten Brötchen, die vom gestrigen Abend übriggeblieben waren.
„Soll ich dir einen Kaffee machen?“
„Nein danke, ich schlafe lieber.“ Er schaute sie entschuldigend an. „Ich fürchte, unser gemeinsames Wochenende läuft nicht ganz wie erwartet.“
„Das macht nichts.“ Sie lächelte ihm aufmunternd zu. „Jetzt ist erst einmal deine Familie dran.“
„Ich mach es wieder gut, das verspreche ich dir.“ Daniel fasste nach ihrer Hand und drückte sie. „Würde es dir übrigens etwas ausmachen, wenn ich mich bei dir ins Bett lege? Drüben herrscht das totale Chaos.“
Paula schluckte schwer. Was sollte sie von dieser Anfrage halten? „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, begann sie. Hannes befand sich zwar in der Nähe, aber die Lämmerbacher Gerüchteküche kochte jederzeit unter Volldampf.
„Ich möchte wirklich nur schlafen, weiter nichts“, beteuerte er und blickte dabei so Mitleid erregend drein, dass sie automatisch schwach wurde. Das fing ja gut an mit ihrer Konsequenz.
Sie nickte ergeben und begleitete ihn ins Schlafzimmer. Als sie für ihn das Bett frisch beziehen wollte, winkte er ab: „Bloß nicht. Ich mag es, wenn es nach dir riecht. Das hilft mir bestimmt beim Einschlafen.“
Den Rest des Morgens räumte sie völlig unkoordiniert in ihrer Wohnung herum, putzte ein bisschen, begann zu kochen und nebenher Dinge zu sortieren. Allerdings war sie mit ihrem Kopf mehr bei Nicole im Krankenhaus und bei dem Mann in ihrem Schlafzimmer als bei den Dingen, die sie gerade tat. So schaffte sie es, in kurzer Zeit ein ziemliches Durcheinander anzurichten. Der Auflauf misslang und einige wichtige Schulunterlagen verschwanden urplötzlich, ohne dass sie im Entferntesten eine Ahnung hatte, wo sie gelandet sein könnten. Sie fand sie erst drei Tage später wieder, mitten zwischen ihren Kochbüchern.
Kaum stand das wenig attraktiv aussehende Essen auf dem Tisch, streckte Daniel, lediglich in schwarze Boxershorts bekleidet, den Kopf durch die Tür. Er gähnte und begab sich ins Badezimmer. Inzwischen kannte er sich dort ja bestens aus.
Auf dem Rückweg machte er bereits einen deutlich muntereren Eindruck. Es reichte zumindest für einen Abstecher in der Küche und eine zärtliche Umarmung. Paula stand in ihrer Küchenschürze verlegen da und wusste nicht wohin mit ihren Händen. Sie fühlte sich bei so viel gut gebauter Männlichkeit etwas überfordert.
Wie bestellt erschien natürlich genau in diesem Augenblick Hannes auf der Bildfläche. Er registrierte die maskuline Umschlingung seiner Schwester mit einer anerkennenden Grimasse.
Paula befreite sich sofort aus den kräftigen Armen und fragte unsicher: „Möchte jemand von euch etwas mitessen? Der Auflauf ist leider etwas missraten.“
Ihr Bruder nickte leidend und Daniel sagte wohlerzogen: „Ich bin von Anne hinreichend abgehärtet und werde mich also ganz wie zu Hause fühlen.“ Zu ihrer Erleichterung zog er sich vorher aber seine restliche Kleidung über.
Hannes beobachte den Freund seiner Schwester beim anschließenden Essen denkbar interessiert. „Scheinst gut in Form zu sein“, kommentierte er schließlich etwas neidvoll. Sein eigener Bizeps ließ trotz zwei Wochen harter Bautätigkeit schwer zu wünschen übrig und auch ansonsten war er in erster Linie einfach dünn.
Paula bemerkte etwas irritiert, dass die beiden in der Zwischenzeit einen wesentlich freundschaftlicheren Umgangston pflegten, zumindest waren sie ohne ihr Wissen zum „Du“ übergewechselt.
„Ich ging eine Zeit lang regelmäßig ins Fitnessstudio“, berichtete Daniel bereitwillig. „Jetzt jogge ich nur noch zweimal die Woche und mache Situps und ein bisschen Hanteltraining, das ist alles.“
Sie konnte leider mit keiner Sportart aufwarten. Und auch sonst gab es nichts an ihr, das Aufmerksamkeit erregt hätte. Ihr hatten noch nie Männer im Freibad hinterhergepfiffen. Warum also musste ausgerechnet sie einen Freund abkriegen, der diesen Katalog-Jungs auf den Hochglanzprospekten ähnelte, die mit ihrem Waschbrettbauch Werbung für Unterwäsche machten?
Die beiden Männer unterhielten sich weiterhin angeregt über diverse Fitnessprogramme, so dass Paulas Einsilbigkeit nicht auffiel. Kaum hatte Hannes jedoch den letzten Bissen in den Mund geschoben, verabschiedete er sich auffällig überstürzt. Dabei schenkte er seiner Schwester ein diskretes Lächeln und fügte unnötigerweise hinzu, dass er nicht vor dem Abendessen heimzukommen gedenke, sie also völlig ungestört wären. Damit erteilte er Daniel unübersehbar seinen familiären Segen.
Paula lief dieses Mal gleich purpurrot an und verschluckte sich am letzten Stück Salatgurke.
Ihr Freund quittierte diese Information und Paulas Reaktion darauf mit einem breiten Grinsen. Hatte es etwa eine weitere Absprache zwischen den zweien gegeben?
Zum Glück klingelte sie Phillip aus dieser peinlichen Situation.
Er stand unten auf der Straße und berichtete, dass er noch mal zum Krankenhaus fahren wolle, um Anne Kleider zu bringen. Trotz Daniels unverkennbaren Missfallens versprach Paula ohne Umschweife, sich so lange um die Leipold-Kinder zu kümmern.
Sie wollte gerade ihre Schuhe anziehen, als ihr Freund sie ausbremste. Er schnappte sich ihre Hände und zog sie einfach hinter sich her bis zum Sofa. „Die Kinder kommen auch ein paar Minuten ohne dich zurecht. Christine ist ein vernünftiges Mädchen. Bevor ich dir erlaube wegzurennen, setzt du dich erst einmal.“ Er drückte sie auf seinen Schoß und hielt sie vorsichtshalber dort fest.
Paula wurde vor lauter Schreck ganz starr. Was sollte das werden? Hatte sie ihn zu idealistisch eingeschätzt? Wollte er nun nachholen, was auf der Maiershütte durch die Zauners verhindert wurde.
Daniel lächelte bei ihrem verkrampften Anblick unwillkürlich. Es machte somit eher weniger den Eindruck, als ob er ihr demnächst lustvoll die Kleider vom Leib reißen wollte. Sie ärgerte sich über ihre verkorksten Phantasien. Sie benahm sich wie ein kompletter Idiot. Daniel war nicht Jörg. Und außerdem sollte sie endlich aufhören, historische Liebesromane zu lesen.
„Es gibt zwei Dinge, die du wissen solltest. Erstens: ich liebe dich, wie du bist und werde zweitens: dich niemals zu etwas zwingen, was du nicht selbst willst. Vielleicht bin ich nicht der Allerschnellste im Kapieren, aber ich habe immerhin verstanden, dass du gerade keinen Sex möchtest. Falls du also deswegen ständig die Flucht ergreifst, kann ich dich beruhigen. Sorry, wenn ich dich mit meinen Vorstellungen überfordert habe.“ Er wirkte bei diesen Worten allerdings sichtbar geknickt und Paula sah sich folglich genötigt, ihm ihre Motivation für diese Haltung, so gut es ging zu erklären. Und wo sie schon bei diesem schwierigen Thema war, konnte sie ihm gleich von ihrer Pseudofreundschaft mit Jörg erzählen.
Er hörte schweigend zu, wie sie diese Episode ihres Lebens vor ihm ausbreitete. Selbst Jörgs wenig schmeichelhafte Kommentare zu ihrer Person, die er im Kollegenkreis verbreitet hatte, gestand sie ihm. „Hältst du mich nun für daneben?“, fragte sie im Anschluss an ihre Offenbarung und wagte es nicht, ihn dabei anzusehen.
Einige Sekunden verstrichen und sie fürchtete schon, dass er ihr intimes Bekenntnis in den falschen Hals bekommen haben könnte und nun mit Fluchtgedanken spielte.
Endlich sagte er: „Das ist der falsche Ausdruck. Ich muss mich nur erst an diese Vorstellung gewöhnen. Ich habe nicht ernsthaft damit gerechnet, dass es heutzutage noch Frauen gibt, die Wert auf Enthaltsamkeit legen. Damit habe ich einfach keine Erfahrung. Ich hoffe, du hast ein bisschen Geduld mit mir.“ Das selbstbewusste Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden und hatte einem schwer zu deutenden Ausdruck Platz gemacht. „Manchmal glaube ich sogar, dass ich so jemanden wie dich überhaupt nicht verdiene“, fügte er hinzu.
Читать дальше