Und falls er doch ernste, dauerhaftere Absichten hegte: Konnte sie sich vorstellen, Daniel zu heiraten und bis ans Ende ihrer Tage mit ihm zusammenzuleben? Eignete er sich überhaupt für eine so enge Lebensgemeinschaft? Daniel als Persönlichkeit war nicht einfach. Das wusste sie trotz ihrer romantischen Schönfärberei. Die Spannungen zwischen ihnen hatten schon in der Vergangenheit stattgefunden und waren für die Zukunft mehr oder weniger vorprogrammiert. Er hatte einen Dickkopf und konnte schrecklich launisch sein. Andererseits war sie seinem Charme hilflos ausgeliefert. Er brauchte sie nur anzulächeln.
Doch war er auch auf treu und verlässlich? Irgendwie konnte sie sich das bei ihm nicht so recht vorstellen. Zumindest hatte er seine Psychologengeliebte damals wegen ihrer Freundin abserviert. Das hatte ihr diese persönlich und brühwarm erzählt. Konnte man auf ein derart unsicheres Fundament eine tragfähige Beziehung aufbauen?
Und dann war da noch die Glaubensfrage.
Paula empfand sich zwar keineswegs als Superchrist, aber sie rechnete fest mit Gottes Hilfe in ihrem Leben und betete auch regelmäßig. Und sie versuchte sich so gut es ging, an die Bibel zu halten. Daniel konnte mit dieser Art von Frömmigkeit vermutlich wenig anfangen.
Diese Überlegungen reichten, um ihren emotionalen Höhenflug merklich abzubremsen. Falls es je mit Daniel und ihr funktionieren sollte, würde es harte Arbeit bedeuten. Das ahnte sie unwillkürlich. Gleichzeitig hatte sie Angst, ihn zu verlieren und die Sehnsucht nach ihm war beinahe übermächtig.
Die nächsten Wochen würden also alles andere als leicht werden, das war so sicher wie Pfarrer Ebershäusers „Amen“ in der Kirche.
Genau der Besagte saß im Pfarrhaus an seiner Predigtvorbereitung, doch seine Gedanken wollten sich einfach nicht an den vorgegebenen Bibeltext halten. Stattdessen wurde er von einer geheimen Sorge geplagt.
In der letzten Nacht hatte ihn ein entsetzlicher Traum mit schon beinahe visionärem Charakter heimgesucht. Er hatte Lämmerbach in Schutt und Asche verglühen sehen, während eine Stimme vom Himmel rief: „Weh dir, du gottlose Hure, die du die Unschuldigen opferst und der Sünde Tor und Tür geöffnet hast! Den gottlosen Heiden wird es am Ende erträglicher gehen als dir!“
Pfarrer Martin Ebershäuser hatte sich als Prophet durch die brennende Straße taumeln sehen, verzweifelt nach Überlebenden Ausschau haltend. Zum Schluss war es ihm gelungen Paula Müller, die junge Lehrerin, im Klassenzimmer ausfindig zu machen, umgeben von ihren halb verkohlten Schülern. Auch sie war am ganzen Körper mit Brandwunden übersät gewesen und hatte mit ihren rußgeschwärzten Fingern anklagend auf ihn gezeigt.
Als er sie nach draußen hatte tragen wollen, schrie sie: „Es ist zu spät! Mir kann niemand mehr helfen! Warum habt Ihr mich nicht gewarnt?“
Schweißgebadet war Pfarrer Ebershäuser aufgewacht und wurde seither von der düsteren Ahnung verfolgt, dass dies ein prophetischer Traum gewesen sein könnte. Eine grauenvolle Warnung.
Die Lehrerin befand sich in Gefahr und er war derjenige, der sie retten musste. Er wusste sofort, um welche Art von Gefahr es sich handelte. Gott hatte ihm durch die geheimnisvolle Stimme einen Hinweis gegeben. Sie war diejenige, die geopfert werden sollte. Ihre Unschuld war bedroht. Und selbst ein Blinder bei Nacht konnte erkennen, von welcher Seite diese Bedrohung kam.
Ob er mit ihr sprechen und ihr die Augen für diese Gefahr öffnen sollte? Aber würde sie überhaupt auf ihn hören oder war sie schon zu stark in den Sog dieses nahezu Gottlosen geraten, für den eine Ehe nichts Heiliges bedeutete.
Während er immer noch an seinem Schreibtisch brütete, kam ihm plötzlich eine Bahn brechende Idee, die er, bevor er anderen Sinnes werden konnte, sofort in die Tat umsetzte. Er war sich sicher, dass der Herr mit ihm sein und ihm die richtigen Worte in den Mund legen würde. Das hatte er seither bei jedem seiner Propheten getan.
Beruhigt ging er nach einem zusätzlichen Gebet an diesem Abend zu Bett. Er hatte seinen Teil zur Rettung der Lehrerin unternommen.
Paulas Leben war durch Daniel keineswegs leichter geworden. Es hatte sich sogar ungemein verkompliziert. Ihre Gedanken wanderten in den kommenden Tagen ständig in verschiedene Richtungen, wie eine Herde Schafe, die aufgestöbert worden waren und nun wild und kopflos auseinanderbrachen.
Dennoch schaffte sie es, einen ordentlichen Unterricht hinzubekommen. Schließlich sollten die Kinder und Jugendlichen nicht unter ihrem emotionalen Ausnahmezustand zu leiden haben.
Zwei Dinge fielen ihr seit den Pfingstferien auf: Christine entwickelte sich langsam zur Musterschülerin und Nicole hängte vollends ab. Sie saß ganze Vormittage lang auf ihrem Platz und kritzelte vor sich hin oder starrte aus dem Fenster. Wenn sie etwas gefragt wurde, gab sie bestenfalls schnippische Antworten oder schwieg. Sie trug trotz zunehmender Temperaturen stets langärmelige Oberteile, äquivalent zu der kühleren Jahreszeit, in der sie mit den knappen Tops herumgelaufen war. Als einmal einer dieser Ärmel ein Stück weit nach oben verrutschte, entdeckte Paula blutige Kratzspuren über dem linken Handgelenk. Nicole lief rot an, als sie den erschrockenen Blick ihrer Lehrerin bemerkte und zog mit finsterer Miene den Ärmel nach unten. Den Rest des Vormittags kam kein Wort mehr über ihre Lippen.
Bei Paula begann ihre berühmte Alarmglocke zu läuten. Sie hatte von solchen Fällen gehört und gelesen. Vor allem junge Mädchen mit problematischem familiärem Hintergrund waren gefährdet. Es war eine Form, den Schmerz, der in ihrem Innern herrschte, auszudrücken. Irgendwie verstand sie ihre Schülerin sogar ein bisschen. Das letzte halbe Jahr hatte es für Nicole wirklich in sich gehabt. Ihr komplettes Leben war umgekrempelt worden. Zuerst starb der geliebte Opa. Dann tauchte Phillip auf und ihre Mutter verliebte sich in ihn. Anschließend mieteten sich drei zusätzliche Kinder dauerhaft in ihrem Elternhaus ein. Hannes bevorzugte Christine und ließ sie deswegen links liegen und zu guter Letzt musste ihr einziger Onkel auch noch mit der Lehrerin anbandeln. Wenn man sich dazu vorstellte, dass Nicole mitten in der Pubertät steckte, brauchte man sich über ihre Reaktionen eigentlich nicht weiter zu wundern.
Paula wagte einmal mehr einen Versuch, ihre Freundin für dieses Thema zu sensibilisieren und stattete am Freitag gleich nach dem Nachmittagsunterricht dem Arzthaus einen Besuch ab. Deren Tochter war am Morgen heulend aus dem Klassenzimmer gelaufen, als sie eine 5-6 in ihrem Englischtest herausbekommen hatte, und bis zum Unterrichtsende nicht mehr aufgetaucht.
Anne wirkte allerdings abgelenkt, während Paula ihre Bedenken vorbrachte. Sie schaute sie kein einziges Mal direkt an und freute sich offensichtlich auch nicht sonderlich über ihren Besuch.
Zum Schluss sagte sie nur: „Danke für deine Mitteilung. Ich werde mich drum kümmern.“ Dann wechselte sie einfach das Thema: „Du weißt sicher, dass Dani heute Abend kommt.“ Ihr Blick bekam etwas Flehendes und Paula spürte, dass es besser war, nicht weiter nachzuhaken.
Deshalb nickte sie und versuchte ebenfalls umzuschalten. „Ich hoffe, dass das mit der Käsedokumentation am Montag und Dienstag hinhaut. Julia will morgen auch anreisen. Dein Bruder hat sie dazu überredet und ihr gesagt, dass er sie unbedingt als dekoratives Hintergrundbild braucht.““ Mit etwas Mühe schlug die Besucherin einen leichteren Tonfall an. Sie musste lernen, ihre Finger aus den Angelegenheiten anderer Leute herauszulassen.
Als sie sich kurz darauf verabschiedete, machte Anne an der Haustür den Eindruck, als wolle sie ihr doch noch etwas mitteilen. Sie öffnete den Mund und wirkte seltsam bedrückt. Doch bevor sie einen Ton herausbringen konnte, knallte eine Tür im oberen Geschoss. Die Hebamme drehte sich daraufhin ruckartig um und stürzte ins Haus zurück.
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