An jenem schicksalhaften Abend aber waren die Herren alleine nach St. Pauli aufgebrochen – wo sie sicherlich auch ohne Joggen ordentlich ins Schwitzen gekommen sein dürften… So war sie alleine ihre abendliche Runde gelaufen. Mit den anderen Alsterjoggern halt. Es liefen ja immer welche im Kreis herum. Egal, bei welchem Wetter. Hauptsache, man war in der elitären Meute der Alsterumrunder dabei… Jan, der damals noch bei seiner Mutter wohnte, joggte nie. „Zu anstrengend und außerdem viel zu gefährlich für meine zarten Künstlerhände. Stell‘ dir vor, ich würde hinfallen…“ Das waren auch heute noch seine Standardworte zum Thema Joggen. Nein, ein Jan Johannsen würde niemals dauerlaufen. Er spazierte! Und zwar gemächlich.
Damals noch in Begleitung seiner Hündin Nele, einer kniehohen Promenadenmischung mit ganz besonderen Vorlieben. Wie Lina an diesem Tag noch feststellen sollte… Nele fand deren Hinterteil nämlich so unwiderstehlich, dass sie kurzerhand herzhaft zubeißen musste.
Ausgerechnet ihren Hintern musste sich der gottverdammte Köter aussuchen – wo sie doch den ganzen nächsten Tag und die komplette Heimfahrt noch sitzend auf demselben verbringen sollte. Lina konnte sich noch genau erinnern, wie wütend sie damals war. Und ihre nagelneue „Bernemer Halblange“, eine Monsterunterhose aus hundert Prozent Baumwolle, wie solche Buxen in Frankfurt-Bornheim heißen, war auch hinüber gewesen! Sie hatte geflucht wie ein Licher Bierkutscher. Nur lauter…
„Oh, Verzeihung, ich schwöre es, das hat sie wirklich noch nie gemacht!“, hörte sie in ihrem Geiste Jans Stimme, als er sich für den unangenehmen Zwischenfall, der Linas Unterwäsche freigelegt hatte, entschuldigen wollte.
„Das sagen sie alle! Der macht nix, der will nur spielen!!!“, hatte Lina daraufhin lautstark gebrüllt, was bei der vornehmen Hamburger Joggergesellschaft gar nicht gut angekommen war. Man tendierte hier bei derlei Peinlichkeiten gerne zum Naserümpfen…
Worauf Jan, verantwortungsbewusst wie der junge Mann aus gutem Hamburger Hause nun einmal war, umgehend die Übernahme aller entstandenen Schäden (kaputte Bernemer Halblange, noch kaputtere Jogginghose, Reinigung und eventuell anfallende Arztrechnungen) samt einer Einladung zum Abendessen als Entschuldigung angeboten hatte. Und diesem großen schlanken Hamburger mit Gardemaß und stahlblauen Hans-Albers-Augen konnte sie die Wiedergutmachung damals beim besten Willen nicht abschlagen. Liebe auf den ersten Hundebiss…
Und schon ein Jahr später wohnten die beiden zusammen in Frankfurt am Main – Ortsteil Bornheim. Also da, wo die „Bernemer Halblange“ daheim sind! Das waren zwei Fliegen mit einer Klappe: Lina sparte sich so das teure Pendeln von Büdingen nach Frankfurt, und Jan war gottfroh, dass er als Hanseat im Hessenlande nicht jegliches Großstadtflair verlieren würde. Landleben war nämlich etwas, womit er absolut nichts zu tun haben wollte. Als Weltgroßstädter aus Hamburg…
Jedoch wollte er sich damals mit Leib und Seele eingemeinden – was er auch ganz systematisch angegangen war. Doch egal, in welche urige Kneipe ihn sein schlauer Reiseführer auch geschickt hat, es waren immer mehr Japaner als Frankfurter da gewesen, und der Apfelwein hatte ihm jedes Mal erst die Tränen in die Augen und ihn selbst dann ganz schnell aufs gewisse Örtchen getrieben.
„Aus‘m Fischbrötche macht mer halt kaa Frankfodder Wörschtsche!“, hatte der Kellner vom Bembelwirt lautstark durch die ganze Kneipe gerufen, als Jan an einem Abend das dritte Mal für länger verschwunden war. Denn der „Äbbelwoi“ – dem Frankfurter sei best‘ „Stöffche“ – war für Jans nordischen Magen-Darm-Trakt wohl eher so etwas wie ein verschreibungspflichtiges Medikament.
Der erste Integrationsversuch war also gründlich in die Hose gegangen! Hamburger bleibt eben Hamburger. Und deshalb am besten bei seinem Fischbrötchen… Das kaufte Jan am liebsten in der Kleinmarkthalle. Dort, wo es Köstlichkeiten aus aller Welt gab, fühlte er sich heimisch. Genau wie im Bahnhofsviertel, der Frankfurter Rotlichtmeile, dem St. Pauli von Mainhatten. Lina wusste um sein Heimweh. Den Umzug wertete sie deshalb auch als echten Liebesbeweis. Ihr letzter Ex hätte für sie ja nicht mal seine Stammkneipe gewechselt…
Ihre Füße waren mittlerweile eiskalt. So gedankenverloren hatte sie in Erinnerungen geschwelgt und darüber die Zeit vergessen. „Jetzt ein schönes Sonntagfrühstück!“ Ihr üppiges Hinterteil sollte ihr – ausnahmsweise – heute doch noch einmal egal sein. Sie ließ ihren flauschigen Pyjama an, schlupfte mit ihren kalten Füßen schnell in die warmen Kuschelschlappen und nahm den Weg vom hochglanzpolierten Badezimmer in Richtung Küche ein. Die supermoderne Designerküche, ganz in klaren Linien gehalten, weiß mit einigen abgesetzten Elementen in Nussbaumoptik, war ihr ganzer Stolz. Und wie immer war alles tip-top aufgeräumt.
Denn Lina wäre nie auf die Idee gekommen, abends ins Bett zu gehen ohne die Wohnung so zu hinterlassen, dass jederzeit eine Delegation von „Mieten, kaufen, wohnen“ samt Kamerateam hätte auftauchen können. Unangemeldet, versteht sich. Das hatte sie sich im Laufe ihres Lebens so angewöhnt, denn nichts war frustrierender, als morgens aufzustehen und in eine Küche zu kommen, die man erst einmal aufräumen musste, bevor man sich einen Kaffee kochen konnte.
„Lina, du übertreibst das vollkommen mit dem Aufräumen! Am Ende wirst du noch ein richtiger Putzteufel…“, hörte sie Jan im Geiste wieder zu ihr sprechen. Denn er sah – zu Linas Leidwesen – das Thema eher flexibel. Obwohl ER ja offiziell der Hausmann war, der für Ordnung sorgen sollte. Aber, im Gegensatz zu Lina, konnte Jan ganz entspannt seinen Kaffee genießen, auch dann, wenn rundum das pure Chaos herrschte. „Typisch Künstler!“, dachte Lina nur darüber.
Dann warf sie ihre Profi-Kaffeemaschine an. Latte Macchiato! So konnte der Tag beginnen… Ihre Stereoanlage war mittlerweile auch wieder im Dienst - genau wie Susi Lustig, die Allzweckwaffe vom Hessenfunk.
„Keine Reportage ohne die rasende Susi“, dachte Lina und drehte den Ton gleich lauter. Wenn schon eine ihrer besten Freundinnen die Nachrichtensprecherin war, dann musste sie ja wenigstens alles mitkriegen… Gestern Abend hatte sie jedenfalls noch genauso gezecht wie die anderen Flaggenmädels. Aber im Gegensatz zu ihr war Susi Lustig, das zähe Tier, schon wieder voll auf Sendung. Und sprach mit glasklarer Stimme, als wäre sie gerade aus einem zehnstündigen Schönheitsschlaf erwacht: „Einen wunderschönen Sonntagmorgen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Hier sind die 11-Uhr-Hessenfunk-Nachrichten. Am Mikrofon für Sie: Susi Lustig.“ Tataaaaaaaaaa!
So ganz wach war Lina noch immer nicht, schließlich hatte sie erst einen halben Kaffee, äh Latte, intus. Doch dann horchte sie auf. „Die amerikanische Sängerin Brittney Texas, ist tot. Sie wurde gestern leblos im Swimming Pool ihrer Villa in Miami aufgefunden. Die genaue Todesursache steht zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht fest. Weltbekannt war unter anderem ihr größter Hit „Forever“, der allein 1987 über zwanzig Wochen weltweit auf Platz 1 lag. Sie galt als die Weiße mit der schwarzen Stimme, oder einfach als „The black Voice“. Die Sängerin wurde nur 49 Jahre alt.“
Lina dachte zuerst, sie hätte sich verhört. Brittney Texas, tot? Eine der größten Soulstimmen für immer verstummt? Aber dann ernüchterte sie sich selbst. Jeden Tag gab es schließlich unzählige Todesfälle auf der Welt, die wesentlich tragischer und ungerechter waren als der einer Frau Texas, die früher mal öfter in den Charts war. Lina fand, dass man generell nicht zu Übertreibungen neigen sollte.
Ganz im Gegensatz zu ihrem Jan. Was er an Feingefühl zu viel vom lieben Gott mitbekommen hatte, war Lina auf ihrem Lebensweg wohl ein wenig verloren gegangen. Sie war auch kein Brittney-Fan. Überhaupt, sie hatte kein Talent zum Fan-von-irgendjemandem-sein.
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