»Ach, die«, wiegelte der Junge ab und vermied es, seinen Vater anzuschauen. »Die spinnen doch. Was weiß ich.«
»Aber warum … Pisspott ? Das muss doch einen Grund haben!«
»Keine Ahnung«, antwortete Clément gespielt gelangweilt. Sein hochroter Kopf erzählte etwas anderes.
Der Vater drückte noch einmal zu, dann verabreichte er seinem Sohn eine Ohrfeige, die nicht wehtat, aber etwas bedeuten sollte, und schickte ihn weg. »Hol mir den Stechbeitel und den Holzhammer! Aber ein bisschen schneller als sonst!« Die Anspannung fiel so schnell von Clément ab, dass es ihn schier schwindelte. »Und sie zu, wo du hintrittst!« Monsieur Robin konnte nur den Kopf schütteln über einen solchen Sohn.
Clément war zwar nicht unbeliebt, aber er hatte nicht das, was eine Kindheit und Jugend auch so besonders macht: den besten Freund. Häufig dachte er kurz vor dem Einschlafen darüber nach, wen er sich zum besten Freund nehmen würde, und da der Kreis derer, die er mit gutem Recht als Freunde bezeichnen konnte, klein war, war auch die Kandidatenliste zur Wahl des Besten nicht lang. Er ging dabei gewissenhaft vor, wägte Vorzüge und Einwände sorgfältig gegeneinander ab, versuchte, sich die so gewonnenen Erkenntnisse im Gedächtnis zu behalten, um dann die Auswahl immer enger zu fassen. Jeannot ist stark, aber er grinst immer so dämlich. Mit Jean-Claude kann man gut reden, aber nicht zu nah, denn er riecht aus dem Mund. Vincent verfügt über einen nie versiegenden Vorrat an Bonbons, vornehmlich Zitrone und Apfel, aber er ist so … Clément scheute sich, dieses Urteil über jemand anderen zu fällen, aber es half ja nichts, wenn er nicht wenigstens sich selbst gegenüber offen und ehrlich war, Vincent also war dumm, und das war nicht nur seine Einschätzung.
Meistens war Clément irgendwann im Verlauf des Vorentscheids eingeschlafen. Wenn es ihm aber gelang, die Wahl in seinen Gedanken bis zum Ende durchzuspielen, dann blieb nur einer seiner Spielgefährten übrig, besser gesagt: eine, und das war Anne-Laure, von allen Nana genannt. Sie hatte dunkles Haar, das sie hoch auf dem Hinterkopf zu einem frechen Pferdeschwanz band, war gelenkig und flink, den anderen immer voraus, ob es darum ging malzunehmen, Blumen zu bestimmen oder auf einen Baum zu klettern. Wobei, genau genommen ließen die anderen ihr gern den Vortritt beim Klettern, da sie alle erwarteten, auf diese Weise den weiblichen Geheimnissen näher zu kommen. Doch auch wenn Clément zu Nana als Kandidatin kein einziger schwacher Punkt einfiel – ein Mädchen als bester Freund, damit würde er sich endgültig unmöglich machen. Und so blieb alles, wie es war, er ging allein zur Schule, hielt sich am Rand des Schulhofs auf, wechselte nicht viele Worte mit seinen Klassenkameraden, streunte an den Nachmittagen und in den Ferien allein am Serein oder im Wald umher und saß dann irgendwann in seiner Kammer, wo er in den Büchern genügend beste Freunde fand, um mit ihnen den Globus zu erobern.
Zu der Zeit, als Clément an jedem Samstagnachmittag in die kleine Dorfkirche ging, die dem Heiligen Ghislain geweiht war und in der Père Yrigoyen ihn und seine Altersgenossen auf die Heilige Kommunion vorbereitete, die sie im nächsten Frühjahr erstmals empfangen sollten, da fingen die Traumfiguren an zu sprechen. Jetzt, da Clément Robin tot ist, können wir im Rückblick sagen, dass in der Nacht, als der Junge dort oben in seiner Kammer zwischen Elternschlafzimmer und Wäschestube, in St. Didier-les-Saules, unter dem nördlichen Herbststernbild des Pegasus zum ersten Mal den fremden Klang vernahm, sein zweites, sein wahres Leben begann. So sagt es auch sein Sohn, Fano, sein zweites Kind, und Titaua, seine älteste Tochter, nickt dazu. Dann schaut sie auf und blickt uns an und lächelt, mit einem Lächeln, von dem Clément später immer wieder behauptete, genau so habe Vahinetua gelächelt, als sie beide sich zum ersten Mal im Traum begegnet waren. Denn als die Gestalten aus dem Blaugrün des Traumbildes ihm – und man muss ergänzen: wie gewöhnlich – entgegenkamen, da sprach ihn auf einmal der Mann an, der ihm nun schon bekannt war, und er sprach mit klarer Stimme: »T’au ingoa« – und dabei zeigte er auf sich – »Tamatoa«. Dann wies er auf die Frau zu seiner Linken. »T’au tuahine: Vahinetua.«
Clément verstand, was er ihm sagen wollte, deutete auf sich und antwortete nach kurzem Zögern: »Moi, Clément.«
»K’lemon«, wiederholte der Mann unsicher, und beide lächelten. »Maeva!«
Von dieser Nacht an war er in St. Didier-les-Saules nicht mehr zuhause, er fühlte sich so fremd, wie sich ein heranwachsender Junge fremd fühlen kann in der Welt, die ihn hervorgebracht hat, umgeben, geborgen, und in der er sich bedrängt, missverstanden, verletzt, allein gelassen fühlt. Nun endlich war er in der Traumwelt kein Eindringling mehr, war willkommen geheißen, er war dort angekommen und namentlich bekannt. K’lemon. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Doch konnte er nichts tun gegen die kosmische Allmacht, die ihn hier in diesem Dorf im tiefsten Frankreich festhielt, wo er eindeutig nicht hingehörte, wo ihn niemand verstand. »Mutter«, flüsterte er mit erstickter Stimme und seine Augen wurden feucht. Und es kam aus seinem tiefsten Inneren, das ihn sagen ließ: »Matia’a«.
Doch samstags nachmittags wurde Clément von Père Yrigoyen einstweilen in die Geheimnisse des Heiligen Brotes eingeweiht. Die dürre Gestalt des Priesters hob und senkte sich auf den Zehenspitzen im Rhythmus seiner Sätze, das scharf geschnittene Gesicht blickte ausdruckslos über die Reihen der Kindlein, die all die Erbaulichkeiten nicht fassen konnten, und seine knarrende Stimme mit dem fremden baskischen Akzent schallte durch das Kirchenschiff. Clément musste daran denken, was Großvater erzählt hatte, dass der Père vor dem Krieg in den heimischen Pyrenäen Schafe und Ziegen gehütet habe, bevor ihm die Jungfrau Maria erschienen war und verheißen hatte: »Von nun an sollst du Seelen hüten.«
Clément hatte verstohlen zu Vater hinübergeschaut, der nur den Kopf schüttelte, während er weiter seine Suppe löffelte. Mutter aber hatte dem Großvater die Hand auf den Arm gelegt und gezischelt: »Nicht vor dem Bub!« Und zu diesem gewandt, weil ja die Sache nun mal aus der Welt geschafft werden musste: »Père Yrigoyen war bei den Partisanen gegen die Deutschen, verstehst du, und da war er einmal dem Tod so nah, dass er ein Gelübde abgelegt hat, wenn er in Friedenszeiten seine Eltern wiedersehen sollte, dann würde er der Kirche dienen.«
»Partisan, da muss ich lachen!« hatte Großvater gemurmelt und gelacht.
Suppentröpfchen hatten sich dabei auf dem Tisch verteilt und Mutter hatte wieder gezischelt: »Alphonse!« Clément hatte wenig verstanden vom Tischgespräch und machte das, was Kinder in solchen Fällen zu tun pflegen: Er machte sich seinen eigenen Reim darauf.
»Leib und Blut unseres Herrn« rief der Seelenhirte nun, »Mysterium«, »Heilsgut der Kirche in seiner ganzen Fülle«. Clément dachte an Madame Schwartz, die Großvater immer die Deutsche nannte, und dass Maman dann sagte, dass sie sehr wohl Französin sei, und zwar aus der Pi-car-die – wobei sie alle drei Silben betonte und anzufügen pflegte: »die Arme«, was Clément erneut ins Grübeln brachte. »Sie hat doch nun einmal einen Mann geheiratet, dessen Vater aus dem Elsass stammte«, und zu Clément gewandt, um bei ihm bloß kein Vorurteil gegenüber seiner Lehrerin aufkommen zu lassen: »Deswegen heißt sie nun Schwartz.« Seitdem verband sich für den Jungen der Name untrennbar mit dem Elsass, und er war später sehr erstaunt, als er in seiner Lehre in Dijon einen jungen Mann kennenlernte, der zwar aus dem Elsass kam, dennoch Michelet hieß.
»Gegenwart Gottes«, »Ausdruck seiner unendlichen Liebe« rief der Pfarrer. Da wanderten Cléments Gedanken zu Nana und ihrem Unterhöschen, bis ihm sein linker Banknachbar einen Zettel zusteckte. Er öffnete ihn und erschrak. Jemand hatte mit groben und kritzeligen Bleichstiftstrichen Père Yrigoyen gezeichnet, wie er den Schafen und Ziegen predigte. Clément ließ den Zettel fallen wie eine glühende Kohle. »Du Idiot!« zischte der Junge neben ihm und sah dem Zettel nach, der unerreichbar unter dem Kniebrett in der Reihe vor ihnen niedergesunken war.
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