War er erst einmal auf die Rue de la Grande Cour eingebogen, konnte er das kleine Schulhaus am gegenüberliegenden Hang sehen. Noch im Sommer hatte er ganz genaue Vorstellungen davon gehabt, was ihn dort erwartete. Schule, das war für ihn wie das schönste Buch, das man sich vorstellen kann, bunter, lebhafter, spannender, erfüllender als alles andere, was er seinem jungen Geist je zugeführt hatte. Le Petit Chaperon Rouge , Les Contes du chat perché , Un bon petit Diable oder die Bücher um Babar , den Elefanten. Wenn seine Eltern vom Markt in Saulieu zurückkamen und seine Mutter ihm am Abend ein neues Buch in die Hand drückte, führte er es jedes Mal als erstes an seine Nase, um den Duft von Papier und Druckfarbe einzuatmen, die sich für ihn zu einem süßen verheißungsvollen Parfüm vereinten. Mutter sah ihn verständnislos, aber nachsichtig an, und wenn er über den Rand des Buches ihr in die Augen schaute, erkannte er, dass sie diejenige war, deren Hand er auf dem Weg über den schmalen Steg in ein unbekanntes, doch schon jetzt ihm verheißenes Land auf seinem Rücken spürte. Sie war sein Schutzengel.
Jetzt, nachdem der Sommer endgültig zu Ende gegangen war, da sich die Zweige mit den schweren Äpfeln und Birnen und Quitten den Pflückern entgegenneigten, die meisten Felder zwischen Thorizeau und La Raquette, soweit sein Auge eben von dieser Stelle des Schulwegs aus reichte, abgeerntet und die Schweine hinter seines Onkels Haus rund und speckig geworden waren, sich alles der Vollendung des Jahres zubereitete, da fühlte sich sein junges Leben so weglos an, hatte alle Spannung verloren. Wenn er jetzt zur Rue Basse hinunterlief, dann verschwand das Schulhaus hinter den anderen Häusern, die rechts und links und vor ihm an der Straße standen, doch wusste er immer noch, in welche Richtung er gehen musste, wo sein Ziel lag. Für sein Leben hatte das verwirrte Kind sein Ziel verloren, denn die Schule, dieses unauffällige Gebäude, ein Geschoss hoch und aus grauem Sandstein wie alle anderen Gebäude umher, bot ihm während der Stunden, die er dort verbrachte, nicht das, was er erwartet hatte, und das war nicht mehr gewesen als Überwältigung, Offenbarung, das große Aha. Er aber war gezwungen, mit Buntstiften seine Sommererlebnisse zu malen. Kreise und Wellen auf einer Linie zu ziehen, ooooo und mmmmm und vvvvv . Singen und dabei die Bewegungen von Madame Schwartz nachzuahmen … Savez vous planter les choux? À la mode, à la mode! , und dann pflanzten sie alle imaginäre Kohlköpfe auf ein imaginäres Feld. Das war nicht die Schule, die Clément sich erträumt und erhofft, nein: nach der ihn verlangt hatte, auf die er geradezu ein Anrecht hatte! Am Nachmittag, wenn Madame Schwartz und Monsieur Petitjean, der Lehrer der älteren Kinder, sie an der Schultür verabschiedeten, rannte er so schnell nach Hause, dass er stets außer Atem in der Rue Haute ankam, über den Hof und ins Haus stürzte, den Ranzen von sich warf und sich auf die Eckbank zurückzog, ja, und nicht selten liefen ihm Tränen über die Wangen.
Dann kam Großvater und sprach zu ihm wie zu einem großen Jungen . Er machte Witze und versuchte ihn aufzuheitern, was ihm auch zuweilen gelang und ihn veranlasste, sich wieder aus der Küche zu entfernen und irgendeiner Arbeit zuzuwenden, im Haus oder draußen, in der Werkstatt, im Hof, so als ob das Lächeln seines Enkels eine erledigte Aufgabe wie jede andere sei. Seine Mutter aber nahm ihn in die Arme und sagte kein einziges Wort, kein falsches und kein richtiges, und das war es, was er jetzt brauchte. Dann drückte sie ihn kurz und ging zu anderen Dingen über. »So, und jetzt holst du die Teller für das Abendbrot aus dem Schrank. Und den Käse aus der Kammer. Und bring die Eier mit!«
Er freute sich darüber, seiner Mutter zur Hand gehen zu können, und was andere Kinder vielleicht eher widerwillig und nachlässig erledigten, tat er gewissenhaft und gern. Dann stand er neben ihr und schaute aus gehörigem Abstand zu, wie sie das Brot aufschnitt oder einen Auflauf zubereitete und in den Ofen schob oder einfach nur Eier buk. Denn er aß auch gern, er hatte Genuss am Geruch der Lebensmittel, der sich veränderte, wenn sie in der Pfanne auf zischendem Fett tanzten oder wenn sie sich aufbäumten unter der Hitze des Backofens, die Farbe wechselten, schmolzen oder fest wurden, je nach Art, wenn sie auf den Teller kamen und sich entspannten und man das riechen konnten, wie gut ihnen das gefiel: gut aussehen, wohl riechen, gut schmecken. Sein Verhältnis zu den einfachen Gerichten seiner Kindheit auf dem Lande war sublim, ohne dass er sich je darüber bewusst wurde – auch später nicht –, was sich aber niemals änderte, sein Leben lang nicht, was immer es war, das er vor Augen, unter die Nase, auf seine Zunge bekam.
Clément musste nicht im Haushalt helfen, seine Mutter hatte ein feines Gespür dafür, wann und wofür sie ihn anstellen konnte und wann und wofür nicht. Niemals hielt sie ihn nach dem Abendessen auf, wenn er, wie sie wusste, schnellstens auf sein Zimmer gehen wollte, nicht zum Abräumen des Tischs, zum Abtrocknen oder eine andere Handreichung. Sie ließ ihn ziehen, und er wusste, dass sie wusste, dass dies der wertvollste Teil des Tages für ihn war.
Angekommen in seinem Refugium, schloss er leise die Tür, um keine schlafenden Ansprüche zu wecken, die an ihn gerichtet werden könnten, was zuweilen vorkam: dem Großvater Tabak besorgen gehen, dem Vater helfen, den Holzleim für den nächsten Tag anzurühren oder die messingnen Beschläge anzuhalten, während Vater sie am Sarg festschraubte – Dinge, bei denen der Meister, so mutmaßte Clément, eigentlich keine Hilfe brauchte. Warum verlangte er danach, warum stahl er ihm seine wertvollste Zeit? Weil er seinen Sohn gern einmal für sich haben wollte, könnte man sagen, weil er ihm zeigen wollte, was er mit seiner Hände Arbeit schaffte, aus Stolz, vielleicht aus Liebe? Clément schaute verstohlen zu seinem Vater auf, der ihm so vertraut und zugleich so fremd war. Wenn Roland Robin sich konzentrierte, kniff er die Augen zusammen und schob die Zungenspitze links zwischen die Lippen, dorthin wo sonst die Zigarette saß. Der Junge versuchte, diesen Gesichtsausdruck nachzuahmen, doch ohne Spiegel konnte er nicht überprüfen, ob es ihm gelang. Er musste heute Abend daran denken, wenn er sich im Bad für das Zubettgehen fertigmachte. Er konnte zwar noch nicht sein Gesicht vollständig im Spiegel sehen, doch mit dem kleinen Tritthocker musste es gehen. Ein Spiegel in seinem Zimmer, das wäre schön, dann könnte er üben zu sein wie die anderen. Hinterhältig schauen wie Jean-Baptist, klug schauen wie Marc, herausfordernd wie Edmond, fröhlich wie Hardouin, überlegen wie der, den sie alle nur Seigneur nannten, weil er im alten Manoir d’Ogny wohnte, auch wenn er nicht von Adel war.
Wenn er in seinem Zimmer war, übte er Ausschauen, auch ohne Spiegel. Und wenn er ausschaute wie …, dann versuchte er auch zu denken wie … Was dachte sich Pépin dabei, wenn er sich schon vor der ersten Schulstunde an Madame Schwartz heranmachte, um ihr irgendetwas zu erzählen, was keinem anderen als erzählenswert erschienen wäre, von dem Pépin allerdings wohl dachte, es hebe ihn, den kleinen, grauhäutigen, gelbhaarigen Jungen eines Ziegenbauern, der weitab vom Ortsrand hinter Collonges hauste, aus der Schar der anderen rotznasigen Quälgeister heraus? Währenddessen genoss es Clément, nicht aufzufallen, nicht zu stören, still, aber beständig und vorhersehbar seine Bahn zu ziehen, Kometeneinschlägen wie dem Brand des Papierkorbs im Klassenzimmer auszuweichen, nicht zu viel Mühe darauf verwendend, sich beliebt zu machen, beliebter als er meinte, auf natürliche Weise sein zu können.
In der Abgeschiedenheit der kurzen Frist zwischen Abendessen und Zubettgehen versuchte er sich auch darin, die Physiognomien der Bücherwesen nachzubilden. Früher hatte Mutter die Kinderbücher, aus denen sie an seinem Bett vorgelesen hatte, mitgenommen, damit er nicht noch heimlich darin blätterte, wenn er eigentlich hätte schlafen sollen. Seit einiger Zeit aber stellte sie die Bücher auf ein Bord, auf dem auch sein Plüschhase Panpan saß und die kleine Spieldose stand, die Dodo, l’enfant, do! spielte. Seit einiger Zeit konnte er auch entziffern, was die Bücher erzählten, manches davon wusste er auswendig, doch wenn ein neues Buch hinzukam, dann wanderten jetzt seine Finger über die Zeilen, um die Buchstaben aufzulesen, und nach und nach verwandelte sich der Zauber der Verkündigung aus dem Mund seiner Mutter in Wissenschaft, mit der er sich die Geschichten erarbeitete. Nach und nach auch vernachlässigte seine Mutter ihre abendliche Pflicht, als sie sah, dass ihr Junge ihrer nicht mehr bedurfte, um in die imaginierten Welten einzudringen. Es geschah ganz allmählich, dass er nicht nur seine Mutter zurückließ (wie er es jetzt übrigens auch tat, wenn er allein seine anderen Großeltern in La Comme besuchte, eine halbe Stunde und mehr zu Fuß, in der er den Dorant überqueren und durch ein Wäldchen hindurch hügelaufwärts laufen musste), sondern sich bald nicht mehr als Besucher in jener fremden Welt bewegte, sie vielmehr eroberte und dann, im Einschlafen und zuweilen noch im Traum selbst gestaltete. Er hatte viel Phantasie.
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