Sebastian blickte träumerisch aus dem Seitenfenster, auf die zehn mächtigen Buchen, die kreisförmig aus dem Boden wuchsen, und bei diesem Wetter auf ihn wirkten wie Ungetüme aus einer fernen Urzeit.
Es regnete jetzt nicht mehr. Die schweren Wolken lagen noch immer wie eine graue Decke über dem Himmel.
Die fünf kreisrunden, bunten Blumenbeete sahen etwas verwüstet aus. Sie erinnerten Sebastian daran, wie er immer am frühen Morgen aussah – mit unfrisiertem Haar.
Sebastians Blick fiel auf die Holzhütte, in der Großvater Gartengeräte, alte Möbel und sämtliches Zeug, das im Haus nicht mehr gebraucht wurde, verstaut hatte.
»Da ist ja unser Hauptquartier«, klopfte Niko Sebastian auf die Schulter und deutete auf die Holzhütte.
William parkte den Wagen unmittelbar vor dem Haus. Großvater stand mit seiner Pfeife unter dem Vordach vor der Haustür, das rechts und links von zwei runden, weißen Marmorsäulen gestützt wurde, und wartete bereits ungeduldig auf seinen Besuch.
»Hallo, Vater.« William ging auf ihn zu und umarmte ihn kurz.
»Hallo, mein Sohn«, sagte Großvater Joe, und seine Augen hatten etwas kindlich leuchtendes an sich, als er Sebastian und seine Freunde sah.
»Hier, das ist für dich, Joe.« William übergab ihm ein kleines Päckchen.
»Danke, mein Sohn.«
William schüttelte den Kopf. »Das Haus ist viel zu groß für dich, Vater. Warum ziehst du nicht in die Stadt?«, sagte er.
Großvater Joe verzog mürrisch das Gesicht. »Was soll ich in der Stadt? Hier ist mein Zuhause«, winkte er ab, »hier bin ich mit meiner Frau zusammen hingezogen und hier werde ich auch sterben«, brummte er, »wir sollten ins Haus gehen«, schlug Großvater vor, und sein Gesicht hellte sich wieder auf, als er Sebastian ansah.
»Es sind die vielen schönen Erinnerungen, die mich mit diesem Haus verbinden, William, das musst du verstehen. Ich habe hier schöne Dinge mit deiner Mutter erlebt – natürlich auch weniger schöne Dinge«, lächelte Großvater in sich hinein und ging voraus, direkt ins Wohnzimmer. »Ich werde meinen Lebensabend hier verbringen, William, und nichts auf der Welt kann mich davon umstimmen!«
»Ist schon gut, Vater. Ich will mich nicht mit dir streiten«, gab William nach.
»Das ist gut so, William«, sagte Großvater Joe lächelnd, »du würdest eh den Kürzeren ziehen.« Er zwinkerte Sebastian zu und zog an seiner Pfeife, die einen angenehm süßlichen Geruch im Raum verbreitete.
Großvater deutete auf den schweren Esstisch, der vor dem großen Fenster stand, durch das man einen herrlichen Blick auf die Terrasse und den Garten hatte.
»Ich habe eine Kanne Tee vorbereitet«, sagte Großvater, »und für euch, Kinder, habe ich Limonade gemacht.«
»Prima«, jubelte Niko, »deine Limonade ist nämlich super«, und schon hatte Niko sich auf einen der schweren Holzstühle niedergelassen.
»Niko!«, ermahnte Juana ihn mit einem strengen Blick. »Du hast wirklich kein Benehmen!«
»Setzt euch!«, sagte Großvater und legte die Pfeife beiseite. »Ich gehe und hole den Tee und die Limonade.«
»Warte, Vater, ich helfe dir.«
Großvater Joe und William gingen zusammen in die Küche.
»Geben Sie mir den Krug, Herr Addams«, sagte Juana, als William wieder zurückkam.
Juana schenkte die Limonade der Reihe nach ein, während Großvater die Teetassen auffüllte, bevor er das Päckchen von seinem Sohn öffnete.
»Danke dir, William«, freute sich Großvater Joe über das Geschenk, »das ist mein Lieblingstabak«, sagte er und stellte die Tabakdose auf den Tisch.
Niko griff in die Schüssel, die bis zum Rand mit Süßigkeiten gefüllt war. »Lecker«, schwärmte er, als er in einen Schokoladenriegel biss.
Lars schlürfte Limonade und Juana wollte einen Tee.
Im Nu war eine Stunde verflogen und Großvater Joe fragte: »Ich weiß, es ist schon etwas später geworden, aber möchtest du nicht zum Mittagessen bleiben, William?«
Sebastian fuhr erschrocken zusammen, als er die Frage von Großvater hörte. Doch zu seinem Glück sagte William: »Nein, danke, Joe, aber ich muss noch etwas für den Garten besorgen und will pünktlich zum Tee zu Hause sein.«
Sebastian atmete erleichtert auf.
»Aber, wenn ich Sebastian und seine Freunde wieder abholen komme, bringe ich Rebecca mit und wir können dann ja gemeinsam zu Abend essen«, schlug William vor.
»Das wäre schön«, sagte Großvater Joe und trank einen Schluck Tee. »Manuel kommt doch auch mit?«, fragte Großvater Joe. »Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen.«
»Natürlich«, antwortete William und trank die Tasse aus. »So, jetzt muss ich aber fahren. Das Wetter sieht ja wieder besser aus.«
Die Wolkendecke riss an einigen Stellen auf und blauer Himmel kam zum Vorschein. Sonnenstrahlen fielen durch das große Fenster auf den Esstisch und legten einen hellen Lichtschein über den Boden, der aussah wie ein glänzender Teppich.
William schritt über den Lichtschein zur Tür. Großvater und die Kinder folgten ihm, in den breiten Flur, bis zur Haustür.
»Schade, dass du schon gehen musst«, sagte Großvater Joe und umarmte seinen Sohn zum Abschied.
»Bis bald, Vater«, sagte William und ließ ihn los.
Sebastian stand da wie versteinert und blickte zu seinem Vater auf. »Auf wiedersehen, Vater«, sagte er.
»Auf wiedersehen, mein Sohn.« Williams Blick wirkte unbeholfen.
William drehte Sebastian den Rücken zu und ging zum Wagen.
»Grüß Mutter von mir«, rief Sebastian ihm nach.
William wandte sich um.
»Ja, das werde ich tun.« Dann, aus heiterem Himmel, sagte William in einem schroffen Ton: »Und denk dran, Sebastian! Benimm dich bei deinem Großvater, sonst komme ich dich vorzeitig holen und es gibt Stubenarrest, für den Rest der Ferien!« Dann stieg William in den Wagen und fuhr die Schotterstraße zurück zum Tor.
»Hmmm«, kam es von Großvater Joe, der neben Sebastian stand. »Hast du Streit mit deinem Vater?«
»Ach, ja, das ist so eine Sache mit ihm und mir«, stotterte Sebastian. »In letzter Zeit habe ich dauernd Streit mit ihm«, gab Sebastian zu.
»Na, das wird sich bestimmt wieder legen«, wollte Großvater Joe ihn beruhigen und legte ihm dabei die Hand auf die Schulter. »Jetzt hast du erst einmal Ferien«, sagte Großvater freundlich. »Kommt, wir holen uns neue Limonade und Süßigkeiten aus der Küche und setzen uns auf die Terrasse. Was haltet ihr davon?«
»Klasse«, kam es von Niko. »Ich liebe Süßigkeiten vor dem Mittagessen.«
»Das sieht man dir an«, sagte Lars und streckte seinen Bauch heraus.
»Na, wenn schon, Lars. Das ist mir so was von egal!«, schnauzte Niko. »Ehrlich, es ist mir völlig egal, Lars Storchbein.«
***
Am frühen Nachmittag schien die Sonne häufiger und es war bereits angenehm warm geworden. Sebastian saß auf dem dunklen Holzboden der Terrasse und ließ seinen Blick über den Garten schweifen, dann sah er nach links, zu dem turmähnlichen Anbau, wo sich Großvaters Schreibzimmer befand.
Niko griff in die Schüssel Süßigkeiten, die Großvater Joe wieder bis zum Rand aufgefüllt hatte.
»Mensch, Niko, du hast doch heute Mittag schon ein ganzes Rind verdrückt. Lass mir noch etwas von den Süßigkeiten übrig!«, hänselte Lars ihn.
»Für dich ist noch genug da, Storchbein!«, giftete Niko ihn an.
»Ihr wollt euch doch nicht streiten?«, ermahnte Großvater Joe die beiden.
»Ach, ne, ...«, sagte Lars.
»Das ist doch kein Streit«, winkte Niko ab. »Wir sind die besten Freunde.«
Großvater Joe lächelte zufrieden. »Dann ist es ja gut.« Er zündete sich eine Lesepfeife an.
»Das ist ja eine außergewöhnliche Pfeife«, bemerkte Juana.
»Ja, in der Tat, das ist sie wirklich«, sagte Großvater Joe und tat geheimnisvoll, »sie hat einmal meinem Großvater gehört«, betonte er, »und er hat sie wiederum von einem König geschenkt bekommen.«
Читать дальше