»Du solltest mich nicht wütend machen. Ich bin heute ziemlich schlecht gelaunt. Es schläft sich nicht so gut, wenn jemand wie du neben einem liegt.«
Ich hole vorsichtig Luft, aber ich lasse mich nicht von ihm einschüchtern. Ich starre ihn herausfordernd an und spucke ihm ins Gesicht. »Du machst mir keine Angst.« Trotzdem lasse ich die Schultern fallen, entspanne meinen Körper, weil mir die Kraft für noch mehr Kampf fehlt. Ich fühle mich schlapp und krank. Schon gestern Abend hatte ich das Gefühl, dass sich etwas anbahnt. Was ich wirklich nicht gebrauchen kann, ist jetzt auch noch krank zu werden. Reicht denn dieser ganze Wahnsinn der letzten Tage nicht? Aber ich denke, dass dieser Irrsinn schuld daran ist, dass mein Körper schlapp macht.
»Dieser hübsche Mund macht manchmal Sachen, die mir nicht gefallen. Dabei könntest du damit bestimmt Sinnvolleres tun.« Er gleitet mit seinem Daumen über meine Lippen. Langsam, aber mit genug Druck, um es eine Warnung sein zu lassen. Sein Blick ist auf meinen Mund gerichtet, sein Brustkorb presst sich gegen meinen, noch stärker, wenn er einatmet. So stark, dass ich seinen rasenden Herzschlag spüren kann. »Dieser Mund«, flüstert er heiser. »So verführerisch, so schmutzig. Ich werde dir jetzt meinen Daumen zwischen die Lippen schieben.«
Ich stoße ein bitteres Lachen aus. Der Griff um meine Kehle lockert sich und ist nicht mehr so schmerzhaft, trotzdem wage ich nicht, mich ihm zu entziehen. »Und was, wenn ich dich beiße?«
»Dann werde ich dir wehtun. Oder vielleicht gefällt es mir auch.« Seine Augen richten sich auf meine, und um seine Mundwinkel zuckt ein Lächeln. »Finde es heraus.« Der Zorn in seinem Blick ist einem neuen Gefühl gewichen: Verlangen. Ich wünsche mir, dass der Zorn zurückkommt, weil ich besser damit umgehen kann, wenn er mich hasst. Dass er sich nach mir verzehrt, verwirrt mich und lässt mich straucheln. Nein, damit kann ich gar nicht umgehen. Besonders, weil mein Körper heftig und unkontrolliert darauf reagiert.
Hitze steigt in meine Wangen. Er weiß, was in meinem Inneren passiert, wenn er mir so nah ist. Er fühlt es so sehr wie ich. Er zieht mich an und schürt eine Sehnsucht in mir, die ich mehr als alles andere verabscheue. Aber sie ist da und beschämt mich. Ich kann seine Erektion an meinem Bauch spüren. Und wieder reagiert mein Körper anders, als ich es will. Ich lecke über meine Lippen, ohne dass ich mich zurückhalten kann. Ein Teil von mir will seinen Daumen schmecken. Einem Teil von mir gefällt es, wie grob er zu mir ist. Es ist dieser dunkle Teil in mir, den ich nicht verstehe und den ich bisher nur bei Nick aus mir herausgelassen habe. Und Ice erkennt diesen Teil, denn er lächelt zufrieden.
»Das macht dich an«, stellt er überrascht fest. »Das sollte es nicht, du solltest dich nicht nach dem sehnen, was ich mit dir tun würde.«
Ich lache abfällig auf. »Du hast keine Ahnung. Du weißt überhaupt nichts über mich. Sex ist nur gut, wenn er die Fähigkeit besitzt, den Schmerz in dir auszulöschen. Und dafür musst du in die dunkelsten Abgründe einer zerstörten Seele hinabsteigen.«
»Deiner Seele?«, will er mit rauer Stimme wissen und nimmt die Hand von meiner Kehle.
Ich wende mich ab, als ich die Neugier in seinem Blick sehe und atme zitternd und ein wenig beschämt ein. Er weiß nichts über mich. Nicht, wie es sich anfühlt, dabei zuzusehen, wie die eigene Mutter sich mit Alkohol und Drogen zerstört. Oder ihren Körper an widerliche Typen verkauft, um neue Drogen zu beschaffen. Er weiß nicht, wie es ist, einsam zu sein, weil in der Schule jeder dich meidet, da deine Mutter eine Stadtbekannte Säuferin ist. Oder wie es ist, den Dealer deiner Mutter in deinen Körper zu lassen, um den Schmerz zu betäuben. Er weiß nichts über mich.
Ich hole zitternd Luft. Solange ich wütend war und der Zorn an meinem Verstand gezerrt hat, war es leicht, mit ihm zu reden und herauszulassen, was so tief in mir schlummert. Aber jetzt ist es das nicht mehr. »Auch«, bringe ich mühsam hervor und unterdrücke das Verlangen, mir noch einmal über die Lippen zu lecken, weil ich noch immer seine Berührung dort fühle. Ich will nur noch weg von ihm, weswegen ich mich verzweifelt in seinem Griff winde.
Was zur Hölle ist los mit mir? Ich fühle mich heute Morgen, als wäre ich unter Betonplatten begraben. Als würde auf mich ein Gegner einschlagen, den ich nicht sehen kann. Etwas reißt an mir, zerrt an meinen Gefühlen. Das Tier wütet in mir und kratzt an meinem Verstand. Raven zu riechen, sie zu spüren, zu sehen überreizt meine Sinne. Ich war zu lange nicht mehr laufen. Ich muss raus, muss rennen, bis jeder Muskel brennt und dieses Zerren endlich schweigt.
Mit einem abfälligen Schnauben wende ich mich ab und ziehe Raven hinter mir her in die Küche, wo ich ihre Handschelle löse und sie wortlos auffordere, sich an den Tisch zu setzen. Es riecht nach Toast, Eiern und Speck, aber am dankbarsten bin ich Sam für die große Kanne Kaffee, die er gekocht hat, denn in der vergangenen Nacht habe ich mehr mit dem Chaos in meinen Gedanken und Gefühlen gekämpft als geschlafen. Ich fühle mich erschöpft, was nicht nur an Raven und meinen Schuldgefühlen ihr gegenüber liegt, sondern vor allem an den Wochen, in denen Sam und ich jetzt schon auf der Flucht sind und um sein Leben kämpfen. Und ich fühle mich, als wäre in mir alles außer Kontrolle geraten. In der einen Sekunde denke ich darüber nach, die Frau neben mir unter meinem Körper zu begraben und nicht aufzuhören, bis sie sich mir völlig unterwirft und meinen Namen schreit. Und in der nächsten zittert jeder Muskel in mir vor Wut und ich will sie umbringen. Im einen Augenblick kann ich ihr nicht nahe genug sein. Und im nächsten kann ich nicht weit genug fort sein. Und bei all dem Chaos darf ich nicht vergessen, dass sie nur wegen Sherwood hier ist. Dass sie seine Tochter ist.
Eins muss man über Sherwood wissen: Er verlangt absoluten Gehorsam. Zuwiderhandlung wird hart bestraft. Immer. Das gilt für jeden, weswegen er auch keine Ausnahme bei unserer Mutter, seiner Partnerin, gemacht hat. Weil sie Sams Betrug gedeckt hat, musste sie sterben. Gerade deswegen ist Sherwood zuverlässig. Jeder im Clan weiß zu jeder Zeit genau, dass er sich auf seinen Anführer verlassen kann. Die Gesetze werden durchgesetzt. Dass Sam und ich geflohen sind, dürfte einiges an Chaos verursacht haben. Und für Sherwood ist es umso wichtiger, zu zeigen, dass er noch immer die Kontrolle hat, indem er Sam seiner Strafe zuführt. Und mich meiner. Weil ich meinem Bruder zur Flucht verholfen habe. Er lässt uns also jagen. Aber was ich brauche, was ich unbedingt will, ist, dass er mich jagt. Dass er sich mir stellt. Damit ich es beenden kann.
»Hast du das Frühstück allein zubereitet?«, will Raven von Sam wissen und sieht ihn bewundernd an, als er Teller mit Ei und Speck vor uns auf den Tisch stellt.
Sam ist in dem Alter, in dem einen jegliches Lob noch peinlich ist. Er verzieht verschämt das Gesicht, presst die Lippen aufeinander und brummt leise zur Bestätigung. »Hat Ma mir beigebracht.« Sams Blick wandert über Raven, seine Augen verengen sich misstrauisch und er tritt einen Schritt von ihr zurück, als brauche er dringend Abstand zwischen sich und ihr.
Dieser Abstand würde mir auch guttun, denn ich halte es in ihrer Nähe kaum noch aus. Meine Gedanken kreisen um das Gefühl, sie in den Armen gehalten zu haben, gemeinsam mit ihr aufgewacht zu sein, und wie sehr mich alles zu ihr hinzieht. Ich erwische mich dabei, wie ich auf ihre vollen Lippen starre, die Biegung ihres Halses mustere und den Klang ihrer Stimme in mich aufsauge.
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