»Im Gegenzug zu mir«, murmle ich leise und wende den Blick auf meine Hände im Schoß.
»Tut mir leid, Süße. Aber ich habe nicht wirklich eine Wahl. Ich brauche dich.«
»Wie lange willst du mich gefangen halten? Ein paar Tage? Wochen?«
Ice grunzt eine Mischung aus Schnauben und Lachen, dann beugt er sich etwas näher zu mir. »Wenn es sein muss.«
Ich reibe mir wieder über die Stirn. In seiner Nähe fällt mir das Nachdenken schwer. »Und wenn ich mit ihm rede? Ich rufe ihn an …«, schlage ich vor.
Ice schüttelt den Kopf. »Lockst ihn direkt zu uns? Er wird den Anruf nachverfolgen lassen. Das wird nicht passieren. Handyempfang ist hier ohnehin ein Geschenk. Also denk nicht mal dran.«
»Wie du meinst«, sage ich nur und weiche seinem arroganten Blick aus, der fast schon etwas Teuflisches hat. Ich habe keine Lust, weiter auf Ices Pläne einzugehen. Ich bin nur eine Schachfigur, mehr nicht.
Das Tapsen von Pfoten und das leise Schaben von Krallen auf PVC lenken meine Aufmerksamkeit zur Tür. Ein schwarzer Kopf erscheint im Türrahmen, schwarze Augen, die im Schein der Öllampen funkeln, mustern mich neugierig, dann kommt ein großer Hund auf mich zu. Sein Schwanz wedelt munter, er stupst mich mit seiner Nase neugierig an, legt vertrauensvoll seinen Kopf auf meinen Oberschenkel und winselt leise. Ich hebe ein wenig aufgeregt meine Hand und lasse sie nervös über seinem Kopf schweben. Der letzte Hund, den ich berührt habe, war mein eigener gewesen. Und diese Augen, die mich so treu anschauen, erinnern mich an ihn.
»Das ist Sultan«, sagt Ice und nimmt meine Hand. Er legt sie gemeinsam mit seiner auf den Kopf des Hundes. Seine Hand ist warm und fühlt sich angenehm schwer auf meiner an. Als ich fühle, wie seine Hitze meinen Arm hochkriecht und sich in meinem Magen niederlässt, ziehe ich mich zurück und lege meine Hand stattdessen auf den Rücken des Hundes.
Ice lacht leise. Er beugt sich zu mir, seine Wange an meiner. »Da ist etwas, das kannst du nicht leugnen. Versuch es, aber ich weiß, dass dein Körper dich verrät. Er tut einfach nicht das, was du von ihm erwartest«, flüstert er. Ice lehnt sich mit einem zufriedenen Grinsen wieder zurück.
Ich streichle Sultan und versuche, das Zittern meiner Finger so gut es geht zu verbergen. Aber mein Atem flattert und verrät Ice, dass er recht hat. Da ist etwas Körperliches, das im völligen Widerspruch zu dem steht, was ich fühlen sollte. Was mein Verstand fühlt. »Denk, was du willst. Ich hasse dich trotzdem«, werfe ich ein.
Nachdenklich starre ich auf die Hand, die den schwarzen Kopf des Hundes streichelt. Ich sehe Sam an, der im Türrahmen zur Küche steht und uns misstrauisch beobachtet, und spüre wieder diese Wut in meinem Magen, diesen tiefgehenden Hass, diese rastlose Unruhe. Sherwood hat unsere Mutter vor seinen Augen getötet, wollte ihm damit eine Lektion erteilen. Sherwood ist ein skrupelloser, gewissenloser Anführer und Mörder. Sein Mittel, um seine Gesetze und Regeln durchzusetzen, sind seine Soldaten und seine Grausamkeit. Soldaten wie ich einer war. Ich habe das alles jahrelang mitgetragen, weil ich in ihm den einzigen Vater gesehen habe, den ich noch hatte. Den Präsidenten der Wölfe, der nicht nur anführt, sondern auch bestimmt, wie wir zu leben haben und wer wir sind. Er war mein Präs. Sein Wort war für mich Gesetz.
Sam und ich sind unter seiner Herrschaft aufgewachsen. Ich gebe es nicht gerne zu, aber als unsere Mutter sich Sherwood angeschlossen hat, hat sie nicht nur unseren Vater verraten, sie hat auch ihre Kinder verraten. Die ganze Familie. Ich sollte sie deswegen hassen, zumindest wütend sein. Aber ich kann es nicht, sie ist unsere Mutter. Und ich habe zu lange selbst nicht gemerkt, dass das Leben, das wir geführt haben, falsch ist. Ich kannte kein anderes. Und ich wollte Sherwood stolz machen, wollte sein Sohn sein. Habe vieles ignoriert und weggesehen. Und irgendwie blieb meiner Mutter auch kaum eine andere Wahl. Wohin hätte sie gehen sollen, nachdem alles zerstört war? Sie wollte uns schützen, indem sie sich mit uns dem Leben auf der Farm angeschlossen hat. Sam war noch so klein und ich noch nicht einmal ein Teenager, als das Leben, wie wir es kannten, mit dem Tod unseres Vaters geendet war. Genau wie sie habe ich mich dem neuen Leben nur zu gern angeschlossen.
Erst der Mord an meiner Mutter hat mich wachgerüttelt. Es hat zu lange gedauert, den Clan zu verlassen. Es hatte erst den Tod meiner Mutter gebraucht, um die Kraft zu finden, Sam und mich dort rauszuholen. Unsere Mutter war wegen einer einzigen Pille gestorben, die Sam gestohlen hatte, statt sie an die Abtrünnigen zu verteilen. Aber Ungehorsam ist das schlimmste Vergehen, das Sherwood kennt. Ein Clanmitglied hat immer gehorsam zu sein.
Ich mustere Raven, die ihre Hand in Sultans Fell vergraben hat, wahrscheinlich lauert sie auf eine Gelegenheit zur Flucht. Sie hat ja keine Ahnung, wie leicht es für mich wäre, ihr zu folgen.
Ich will, dass Sam wieder leben darf. Ohne Angst vor dem Tod. Er ist ein Kind, auf das ein verdammtes Kopfgeld ausgesetzt ist. Jeder, der sich irgendwie in unserer Welt bewegt, ist hinter ihm her. Bevor er nicht sicher ist, werde ich nicht mehr atmen können. Also ja, zumindest ein Teil von mir hofft, dass Raven uns retten kann. Der andere Teil hofft, dass sie mir irgendwann verzeihen kann.
Es klopft an der Tür. Dreimal schnell hintereinander, dann zwei weitere Male und noch mal. Unser Zeichen dafür, dass jemand vor der Tür steht, dem wir vertrauen können. Ich stehe langsam vom Sofa auf und schaue durch die schmalen Scheiben neben der Tür, um sicherzugehen, dass auch wirklich niemand anders draußen lauert. Erst dann öffne ich, die Waffe in der freien Hand, den Finger am Abzug. Sherwood hat mich gelehrt, immer vorbereitet zu sein.
»Sheriff«, sage ich zu Will, lasse meinen Blick über ihn gleiten, um abzuschätzen, ob seine Haltung verkrampft wirkt oder sonst irgendwie den Verdacht erwecken könnte, dass er die Seiten gewechselt hat. Er lächelt nicht, sieht nicht zornig aus und wirkt auch sonst nicht, als plane er gerade einen Mord. In seinen Armen hält er eine Papiertüte, aus der oben ein Netz mit hellgrünen Äpfeln herausquillt. Ich trete von der Tür weg. »Komm rein.«
Der Sheriff schiebt sich an mir vorbei, ich werfe einen Blick vor die Tür, wo sein Dienstwagen parkt. Eigentlich müsste ich mir deswegen Gedanken machen, denn ein Polizeiauto vor der Tür zieht immer Aufmerksamkeit auf sich. Die Nachbarn fragen sich dann, was man verbrochen hat. Aber hier gibt es keine Nachbarn. Dieses ehemalige kleine Farmhaus ist so weit weg von allem anderen, dass es Wasser aus einem Brunnen bezieht und nicht einmal am öffentlichen Versorgungsnetz für Elektrizität angeschlossen ist.
»Ich habe Lebensmittel mitgebracht«, sagt Will unnötigerweise und drückt mir die Papiertüte in die Arme.
Ich muss grinsen. »Du hast keine Wassermelone getragen?«
»Fick dich!«, brummt Will und versucht, mich mit einem düsteren Blick niederzustarren. »Nicht witzig.«
»Sheriff!«, schreit Raven in diesem Augenblick auf. Ich zucke zusammen, so verzweifelt und laut klingt ihre Stimme. Ich sehe über die Schulter zurück, um ihr mit einem Kopfschütteln zu signalisieren, dass sie von Will keine Hilfe zu erwarten hat, aber da ist sie schon vom Sofa aufgesprungen und rennt auf ihn zu. »Ich bin entführt worden«, erklärt sie ihm mit hektischen Handbewegungen und wirft sich dem Sheriff an den Hals. Der Anblick, wie sie sich an ihn klammert, lässt mich wünschen, ich hätte auch so eine Uniform.
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