Es tat Jean plötzlich leid, so neugierig gewesen zu sein und sie wollte sich entschuldigen.
„Ach, Unsinn!“, winkte das andere Mädchen energisch ab und setzte sich vor sie auf den staubigen, harten Boden. Ernst blickte Amy ihrer Freundin in die Augen. „Was hast du in London gemacht? Du hast mir nie davon erzählt, wie es dort aussieht und wie ihr gelebt habt. Ich meine, warst du dort glücklich?“
Die Frage traf Jean unvorbereitet und sie brauchte einige Minuten, um die wirren Überlegungen in ihrem Kopf zu sortieren. Seit vielen Wochen hatte sie nicht mehr eine Sekunde an ihre Villa, an ihr Zuhause gedacht, hatte es fast völlig aus ihrer Erinnerung gestrichen; es existierte einfach nicht mehr. London – um was handelte es sich bei diesem Namen doch gleich? Richtig, um eine langweilige, riesige, anonyme Metropole, irgendwo viele tausend Meilen entfernt. Das, was dort gewesen war, kam ihr so absurd, so unwirklich vor. Sie konnte nicht glauben, dass sie einmal dort gelebt haben sollte, in einer Villa, in einer lauten, stinkenden Stadt. Die Mädchen, mit denen sie ihre Zeit verbracht hatte und von denen jede immer nur damit beschäftigt gewesen war, der anderen überlegen zu sein – wie hatte sie sie nur ertragen? Das allerwichtigste waren teure Kleider und der Besuch edler Restaurants und Cafés gewesen, in denen sich nur die gehobene Gesellschaft die Klinke in die Hand gab, aber sonst? Womit hatten sie ihre Zeit sonst totgeschlagen? Sie erinnerte sich nicht.
„Genauso habe ich dich eingeschätzt, als wir uns kennengelernt haben“, nickte Amy und Jean zuckte erschrocken zusammen. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie ihre Überlegungen laut ausgesprochen hatte.
„Ich war nie so, ich habe es mitgemacht und über mich ergehen lassen“, realisierte Jean sehr klar und erwachsen. „Patty ist das, was du gesehen hast. Sie ist so, wie sie sich gibt, genau wie meine Mutter.“
„Und dein Vater?“
Jean musste kurz überlegen. „Mein Vater?“ Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Er redet nie viel und ich glaube, er versteht mich besser als er zugibt.“
Eigentlich bin ich mehr Paps’ Kind, schon immer gewesen. Wieso ist mir das bloß nie aufgefallen?
Dabei musste sie lächeln. Immer hatte ihre Mutter es geschafft, sich in den Vordergrund zu spielen, jeden Tag. Ihre Meinung, ihre Ansichten waren entscheidend, sonst nichts. Ihr Vater war dabei stets untergegangen.
Während Jean nun an Amys Arm über den Hof, zum Ranchhaus hinüberspazierte, wurde ihr mit einem Mal bewusst, was es bedeutete, sich an einem Ort Zuhause zu fühlen. Sie atmete den warmen Wind ein, spürte die strahlende Sonne in ihrem langen, braunen Haar. Es hatte nichts mit Luxus oder einer riesigen Villa zu tun, auch, wenn sie nichts anderes in ihrem Leben bisher gelernt hatte. Ihren Instinkt konnte das nicht täuschen. Es zählte etwas völlig anderes: Allein die Menschen, die einen umgaben, machten einen Ort zu dem Heim, das einen unbezahlbaren Wert besaß – eben ein Zuhause.
* * *
Leise prasselte der Regen seit nunmehr einem halben Tag gegen die Scheiben im Wohnraum der Arkin Ranch. Der Radio lief im Hintergrund und die Sendung wurde immer wieder durch aktuelle Durchsagen zur Schlechtwetterfront unterbrochen, die auch noch die kommenden beiden Tage über das Gebiet hinwegziehen sollte.
„Igitt!“, sagte Jean und beobachtete die Tropfen, wie sie langsam am Glas herabliefen. „Das hört ja überhaupt nicht mehr auf! Wenn dein Vater sich nicht beeilt, wird er noch mitsamt dem Pickup weggeschwemmt!“
„Ach, verflixt!“ Zornig schlug Amys flache Hand auf die Tasten des Spinetts, das scheppernd und protestierend einen hässlichen Misston von sich gab. „Warum muss bei dieser bescheuerten Note bloß ein Kreuz davorstehen?! Jetzt übe ich seit einer halben Stunde nichts anderes als diese vier Takte!“ Entmutigt pfefferte sie das Liederbuch beiseite.
„Warte doch mal!“ Jean hob es auf. „Wie wäre es, wenn ich dazu singe? Vielleicht hilft dir das!“
„Du kannst doch überhaupt nicht singen!“
„Vielen Dank!“ Schmollend wandte Jean sich ab. „Dann üb’ doch alleine weiter!“
Von der Haustüre her ertönte ein zaghaftes, dreimaliges Klopfen. Erstaunt wechselten die beiden Mädchen einen Blick.
„Erwartet ihr Besuch?“, fragte Jean.
„Nein, aber vielleicht hat Trey wieder mal was angestellt!“
Neugierig liefen die beiden Mädchen hinaus, ins Treppenhaus. Amy griff nach dem Türknauf, öffnete – und stutzte. Das war nicht Trey, der da unter dem Vorbau stand.
„Hallo!“, sagte die tropfende Gestalt unter dem langen, grauen Wachsmantel. „Entschuldigt bitte die Störung. Ich habe die Ranch zufällig gefunden und…“
Mit großen Augen betrachteten die zwei Freundinnen einige Sekunden lang den jungen Mann, über dessen nasses Gesicht der Regen lief, weil sein Hut so durchtränkt war, dass er das Wasser nicht mehr abzuweisen vermochte. Ein wenig verunsichert ob der Störung stand er vor ihnen, während sich rings um ihn langsam eine Pfütze bildete. Sein Anblick verschlug Amy und Jean zunächst die Sprache. Sie wechselten einen kurzen, abstimmenden Blick. Irgendeine von ihnen musste jetzt die Initiative ergreifen und den Mund aufmachen.
„Hallo! Können wir Ihnen helfen?“ Es klang zögernd. Amy hatte den jungen Mann noch nie zuvor gesehen. „Wollen Sie vielleicht hereinkommen und sich trocknen?“
Der Fremde schob sich den Hut ein Stück aus dem Gesicht und schüttelte sich, wie es ein Hund tat, der die Feuchtigkeit in seinem Fell loswerden wollte. Wasser spritzte nach allen Seiten und er versuchte ein zuversichtliches Lächeln aufzusetzen. Sein goldbraunes, viel zu langes Haar, das sich in wilder Naturkrause unter der Hutkrempe lockte, stand nach allen Himmelsrichtungen ab. An seiner schlanken Gestalt klebten nichts weiter als durchnässte und ausgewaschene Bluejeans, ein T-Shirt und darüber der ausgediente, triefende Ledermantel, der ihm viel zu groß war. In der Hand hielt er einen ausgebeulten, bis an den Rand vollgestopften Rucksack.
Wie ein Landstreicher, durchzuckte es Amy. Ihr Blick wanderte über ihn hinweg und blieb an seinen schmalen, jedoch kantigen Gesichtszügen hängen. Freundliche, haselnussbraune Augen schauten sie an. Er mochte kaum älter sein als Trey, vielleicht dreiundzwanzig, jedoch zu dessen hochgewachsenem, schlankem Körperbau, einen guten halben Kopf kleiner.
„Entschuldigen Sie!“ Hastig nickte er den beiden Mädchen zu. „Mein Name ist Alec Galbraith und ich bin auf der Suche nach Arbeit!“
Wie er so dastand, fast verschüchtert und völlig durchtränkt vom kübelnden Regen, tat er Amy leid. Sie konnte ihn nicht wegschicken, jedenfalls nicht in seinem derzeitigen Zustand. Das würde auch ihr Vater einsehen.
„Sehen Sie den Mann dort hinten, in dem gelben Regenumhang?“ Sie deutete zur Scheune hinüber, wo einige der Cowboys die neuen Stacheldrahtrollen zu kleinen Häufen stapelten. „Das ist unser Vormann. Er kann Ihnen auf jeden Fall erstmal ein Zimmer geben, damit Sie sich aufwärmen können!“
Gottfroh, nicht gleich fortgejagt worden zu sein, strahlte der junge Mann sie an. „Vielen Dank, Miss! Vielen Dank!“ Er trat drei Schritte rückwärts und fiel dabei fast die beiden Stufen zur Veranda hinab. Hochroten Kopfes wandte er sich um und marschierte durch den matschigen Sand, wo die Regentropfen in den Pfützen ihre Kreise zogen, zu Dan hinüber. Lange blickten die beiden Mädchen ihm nach.
„Komischer Kerl“, fand Jean. „Sieht aus, wie ein Zigeuner!“
„Aber nett“, entgegnete Amy nachdenklich. „Sogar sehr nett!“
Verständnislos schüttelte Jean den Kopf. „Wie willst du das beurteilen? Du hast ihn vor zwei Minuten das erste Mal gesehen!“
„Er ist nett! Das weiß ich! Hast du seine Augen nicht bemerkt?“
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