In ihren gewohnten Bluejeans und einer Jacke über dem Arm kam Jean aus ihrem Zimmer geeilt. „Abfahrbereit!“
„Sehr gut! Hast du Geld?“
„Geld?“ Jean starrte sie verständnislos an. „Bevor meine Mutter mir Geld gibt, muss ich genau erklären, wofür ich es haben will! Außerdem: Was soll ich damit?!“
„Auch egal!“ Amy packte sie am Arm. „Daddy hat mir nämlich eine ganze Menge Scheine mitgegeben und mir aufgetragen, für uns beide ein paar neue Klamotten zu besorgen. Wir fahren nach Silvertown zum Einkaufen! Trey bringt uns hin!“
„Das ist ja spitze!“ Jean lachte. Sie klappte das Mathematikbuch zu und schloss das Fenster. „Ich zahle es dir zurück, sobald ich meinen Vater alleine erwische. Hoffen wir, dass niemand von meiner Familie so bald nach Hause kommt.“
„Will deine Mutter immer noch Familientage einführen?“
„Ich fürchte, ja!“
Von draußen erklang ungeduldiges Hupen und Treys laute Stimme: „Hey ihr beiden! Die Geschäfte haben sogar in Silvertown nicht länger geöffnet wegen euch! Also, haltet euer Kaffeekränzchen auf der Fahrt ab!“ Demonstrativ drückte er noch einige Male auf die Hupe, die quietschend über den Hof trompetete.
Jean kicherte. Die Vorstellung, nach Silvertown zu fahren und durch die Läden zu bummeln, gefiel ihr. Sie hakte sich bei Amy und gemeinsam rannten die beiden Mädchen hinaus in das kalte Frühjahr.
Ostern kam und ging und bald darauf war Rachel wieder mit ihren eigenen Aktivitäten beschäftigt. Niemand kümmerte sich großartig um den anderen, wie es eben zuvor und in all den zurückliegenden Jahren auch schon der Fall gewesen war. Es änderte sich nichts daran, wie der eine mit dem anderen umging, nur war es inzwischen an Jean, sich von ihrer Familie immer mehr abzunabeln und ohne, dass es überhaupt jemandem groß aufzufallen schien. Matthew verbrachte fast immer sieben Tage die Woche in der Klinik und Patty hatte unter ihren Freundinnen einige gefunden, die gerne mit ihr in die größeren Städte in der weiteren Umgebung fuhren. Meistens fanden sich dafür ältere Geschwister, die bereits ein Auto oder zumindest einen Führerschein besaßen. Ebenso verhielt es sich mit entsprechenden Partys, über die Patty stets bestens informiert war.
Das Verhältnis zwischen Jean und ihrer Schwester glich nur noch einer oberflächlichen Bekanntschaft. Wenn sie gemeinsam in der Hütte anzutreffen waren – was ohnehin sehr selten der Fall war – wechselten sie belanglose Worte miteinander und Jean war froh, den schnippischen, besserwisserischen Bemerkungen ihrer Schwester bald wieder entkommen zu können.
Die ersten Sonnenstrahlen des frühen Sommers brachten schon bald wärmere Temperaturen und luden dazu ein, die Pferde zu satteln und hinauszureiten in die Weiten der Prärie. Jeans reiterliche Fähigkeiten waren mittlerweile so weit fortgeschritten, dass sie in Amys Gegenwart auf Lady, dem brävsten Pferd auf der Ranch, auch ausreiten durfte.
Laut rufend rannte eine kleine Gestalt über den Ranchhof. Ausnahmsweise trug sie saubere Bluejeans und ein dunkelrotes, gebügeltes Hemd unter ihrer Lederjacke. Dazu passend steckte in den Schlaufen der Hose ein hellbrauner Ledergürtel und ein Cowboyhut in derselben Farbe hing an einem Lederband um ihren Hals auf die Schultern hinab. Als sie am Bunkhouse der Cowboys vorbeischoss, das offene, braue Haar wild hinter sich her fliegend, erklang unerwartet an der Ecke ein lauter Schlag. Trey stöhnte mit schmerzverzerrtem Gesicht und der Sattel, den er eigentlich hatte aufräumen wollen, fiel ihm aus der Hand, auf die nasse Erde.
„Entschuldige!“, keuchte Amy außer Atem. Sie merkte kaum, dass ihr die Wange vom Zusammenprall mit dem großen, schlaksigen Cowboy wehtat.
Vorwurfsvoll rieb der junge Mann sich das Kinn. „Da biegt man nichtsahnend ums Hauseck und wird über den Haufen galoppiert!“
„Jeden Moment kann der Bus mit den ersten Touristen für diese Saison ankommen!“
Verständnislos zuckte Trey die Achseln. „Und deshalb setzt du das Leben deiner Mitmenschen aufs Spiel?! Die werden sich seit dem letzen Jahr nicht viel verändert haben.“ Er hob seine Hände zur Aufzählung: „Ausländer, Besserwisser, Nervensägen, Möchtegern-Helden, Leute, die beim Reiten ihren angefutterten Speck loswerden wollen und hysterische Tanten, die schon beim bloßen Anblick eines Gewehrs aus den Stiefeln kippen. Wobei mir die ersten noch die liebsten sind – die verstehen mich nicht und ich verstehe ihr Gequatsche auch nicht. Das schont die Nerven!“ Er machte zu all dem eine äußerst wichtige Miene und Amy musste lachen.
„Und sie sichern dir deinen Job!“ Sie ließ ihn stehen und rannte weiter, zum Pferdestall: „Jean! Jean!“, schrie sie aus Leibeskräften und bog ungebremst in die Stallgasse ein.
Erschrocken machte das andere junge Mädchen einen rettenden Satz beiseite, wobei ihr beinahe der Arm voll Pferdeputzutensilien, mit denen sie eben in Richtung Scheune unterwegs war, zu Boden fiel. Erstaunt schaute sie die Rancherstochter an.
„Ist was passiert?“
„Noch nicht! Aber wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir das Beste!“ Aufgeregt schob Amy ihre Freundin zum offenen Stalltor hinaus. „Los, los! Mach’ schon! Ich hab’ den Bus vom Hügel aus schon kommen sehen!“
„Lass mich doch zuerst meinen Kram verräumen!“, rief Jean und sammelte die Striegel wieder zusammen. „Sonst schimpft Dan wieder, wenn wir alles liegenlassen!“
Auch das doppelflüglige Scheunentor stand weit offen, sodass der helle Schein des Tageslichts bis fast in den letzten Winkel des alten, großen Gebäudes fiel. Außer Atem lehnte Amy sich an einen der breiten, schweren Holzstämme, die das Dach der dämmerigen Scheune abstützten. Sie beobachtete die englische Arzttochter dabei, wie sie den Deckel einer Holzkiste öffnete und die Putzsachen fein säuberlich hineinlegte und nebeneinander ordnete. Die Scheune war durch eine Decke geteilt: Im oberen Teil lagerte das Heu und Stroh und hier unten befand sich sämtliches Zubehör für die Pferde. Obwohl die Scheune eine große Grundfläche maß, hatte es ständig den Anschein, als platze sie jeden Moment aus allen Ecken und Enden.
„Wenn deine Mutter und deine Schwester dich so sehen könnten!“, gluckste sie und verdrehte die Augen.
„Lieber nicht!“, winkte Jean entsetzt ab. „Sie würden mich sofort nach London zurückschicken, damit ich wieder bessere Manieren lerne!“
„Meine Mutter wäre sehr stolz auf mich“, sagte Amy, plötzlich sehr leise und in sich gekehrt.
„Deiner Mutter hat es hier wohl nicht gefallen?“, fragte Jean vorsichtig. Sie hatten noch nie über die Tatsache gesprochen, dass Amy mit ihrem Vater alleine auf der Ranch lebte.
„Doch, ich glaube schon, dass es ihr hier sehr gut gefallen hätte…es kann einem hier nur gefallen.“
„Hmm.“ In Gedanken vertieft schloss Jean den Deckel der Kiste.
„Du wunderst dich vielleicht, warum mein Vater nicht mehr geheiratet hat“, fasste Amy jetzt Jeans ummantelte Frage in klare Worte. Ein eigenartig steifes Lächeln spielte um ihre Lippen, das die unendliche Traurigkeit und Melancholie verbergen sollte, die ihr Innerstes erfüllten. „Weißt du, ich hätte meine Mutter so gerne kennengelernt, aber sie ist an Krebs gestorben, als ich drei Jahre alt war. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Früher, besser gesagt, bis zu ihrem Tod lebten wir alle zusammen in Seattle. Daddy arbeitete als Rechtsanwalt und er war sehr erfolgreich und überall angesehen. Sein großes Ziel sah er immer darin, eines Tages Richter zu werden.“ Sie hielt kurz inne, ehe sie leise fortfuhr: „Aber nachdem meine Mutter gestorben war, hat er alles zurückgelassen: Seinen Beruf, seine Freunde, sein Zuhause… Dafür hat er sich seinen Kindheitstraum erfüllt, nämlich, eine Ranch zu kaufen. Lange Jahre musste er dafür kämpfen und schuften, um sie am Leben zu erhalten. Er war auch maßgeblich daran beteiligt, Silvertown zu dem zu machen, was es heute ist.“ Amy lächelte stolz. „Daddy und ich – wir würden niemals von hier fort gehen!“
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