„Schon gut. Mach’ dir keine Sorgen.“ Beruhigend streichelte Rachel ihrer Tochter kurz, fast hastig die Wange. „Ich werde auch nie mit diesen Leuten hier zurechtkommen. Du hättest heute in der Stadt dabei sein sollen! Man braucht nur zu sehen, wie sie sich geben und kleiden! Ein verrücktes Volk, diese Amerikaner, zumindest die, die in dieser Gegend hausen und ausgerechnet hierher musste es deinen Vater verschlagen! Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt…“
„Ich auch!“, stimmte Patty eifrig zu und dachte an den zurückliegenden Nachmittag und ihre erste Begegnung mit ‚diesem verrückten Volk’.
Als hätte Rachel ihre Gedanken erraten, erzählte sie kopfschüttelnd: „Du wirst es nicht für möglich halten, aber heute sind uns sechs oder sieben Cowboys entgegengeritten kommen, als wir von der Stadt zurückfuhren. Richtige Cowboys, verstehst du? Wie aus einem Kinofilm! Das heißt, ich glaube sogar, eines davon war ein junges Mädchen. Entsetzlich!“
Patty schwieg und sie versuchte mit Grauen, sich innerlich auf das bevorstehende Fest einzustellen. Auf einmal beugte Rachel sich zu ihr hinab. Sie blickte ihrer Tochter fest in die Augen – schiefergrau traf auf grün und das Mädchen schluckte. Die Macht und der Wille, die von ihrer Mutter ausgingen, jagten ihr immer wieder großen Respekt, ja, manchmal sogar ein wenig Angst ein. Rachel bekam, was sie wollte – immer und völlig gleich, mit welchen Mitteln sie es erreichte. Verschwörerisch legten sich ihre Hände auf die dünnen Schultern ihrer Tochter. Der Griff wirkte eisern, unnachgiebig, fast herrisch und Patty versteifte sich unwillkürlich.
„Du darfst dich nicht an den Ansichten deines Vaters stören – er war schon immer ein hoffnungsloser Träumer. Schon, als ich ihn geheiratet habe und deshalb…“ Sie seufzte. „Nun ja, deshalb wollte ihn dein Großvater eigentlich auch nicht in der Familie haben.“ Sie schüttelte den Kopf und verhinderte, dass Patty ihr ins Wort fiel. „Du musst nur ganz klar unsere Meinung vor deinem Vater vertreten – und vor den anderen!“
„Natürlich!“, versicherte Patty überzeugt.
„Und“, fuhr Rachel leise fort, „du darfst niemals vergessen, wer du bist! Mein Vater hat mich sein Leben lang eines gelehrt: Was auch immer wir tun, wir müssen uns dabei vollauf bewusst sein, dass wir eine van Haren sind, alter, niederländischer Adel. Man kann ein Filmstar oder ein Millionär werden, aber als van Haren wird man nur geboren und darauf musst du stolz sein! Diese Ehre kann sich niemand erkaufen!“ Sie unterbrach sich und ein eigenartiges, kaltes Lächeln spielte um ihre vollen, roten Lippen. „Daran musst du auch immer denken, mein Mädchen! Du weißt, dass wir van Harens seit Jahrhunderten eine anerkannte, erfolgreiche Familie sind und wir können es noch bis in das nächste Jahrtausend hinein sein!“
„Ich schwöre dir, dass ich alles dafür tun werde, damit wir es bleiben“, erklärte Patty würdevoll und fühlte sich mit einem Mal unglaublich geehrt. Sie stammte aus einem alten Adelsgeschlecht. Wer konnte da schon mithalten?
„Es ist dir doch nicht gleichgültig, in welchem Umfeld du ein Jahr deines Lebens verbringst?“, fragte Rachel plötzlich, lauernd.
Irritiert schüttelte Patty den Kopf. „Nein, natürlich nicht!“
„Gut.“ Ihre Mutter nickte. „Du kennst das Problem und ich werde eine Möglichkeit finden, es zu lösen und zwar schneller, als es manchen Menschen lieb sein wird!“
Im grellen Licht der Scheinwerfer des schwarzen Jeeps waren die Unebenheiten auf dem schmalen Sandweg gut zu erkennen, doch zur Sicherheit hielt Matthew das Tempo gedrosselt. Auf der Asphaltstraße, die in linker Richtung nach Silvertown führte, bog er entgegengesetzt ab und trat aufs Gaspedal.
„Du scheinst ja genau zu wissen, wohin wir fahren müssen“, bemerkte Rachel herausfordernd, wobei sie ihren Lippenstift aus der Handtasche fischte.
„Es ist nicht schwer zu finden“, entgegnete Matt ruhig und konzentrierte sich auf die Straße.
Stumm saß Patty auf der Rückbank und starrte zum Seitenfenster hinaus, während ihre ältere Schwester leise eine Melodie vor sich hin summte. Sie schien aufgeregt, ja, geradezu erfreut zu sein, auf diese Feier gehen zu dürfen.
„Musst du meine Nerven schon wieder mit deinem falschen Gejodel strapazieren?“, blaffte sie Jean einige Sekunden später an, die überrumpelt verstummte. „Es ist ja schön, wenn du glücklich bist, in deinem Alter endlich einmal zu erfahren, was eine Party ist“, fuhr Patty keifend fort. Sie genoss es jedesmal, wenn sie ihrer zwei Jahre älteren Schwester hineinwürgen konnte, dass sie in vielerlei Hinsicht schon wesentlich besser informiert war als diese. „Wenn du dich mal anständig anziehen würdest und ein bisschen auf dich achten, würde dich vielleicht auch endlich mal ein Junge ausführen.“
„Patty!“, ermahnte Rachel sie, noch immer mit dem Lippenstift beschäftigt. Jean hingegen schwieg verletzt und starrte für den Rest der Fahrt regungslos zum Fenster hinaus. Sie kannte die Bosheiten ihrer kleinen Schwester zur Genüge und hatte keine Lust, sich davon den Abend verderben zu lassen. Was konnte sie dafür, dass sie nicht die Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte?
Draußen war es bereits dunkel. Nur ganz weit im Westen, über den weithin sichtbaren Gipfeln des bereits zu Oregon gehörigen Columbia Plateaus, erhellten die Sonnenstrahlen den Abendhimmel und schenkten ihm eine tiefe, leuchtend-rote Farbe. Je länger Patty nachdachte, desto unerträglicher kam ihr dieses ganze Leben vor. Sie träumte von der riesigen Bibliothek und dem freundlichen, gerade an solchen Abenden, herrlich gemütlichen Kaminzimmer in ihrer Villa in London. Da war das leise plätschernde Flüsschen, der säuberlich kurz gehaltene Rasen, wo sich kein einziger Halm Unkraut fand und auf dem sie im Sommer so gerne barfuß lief, weil er sich anfühlte, wie ein Meer aus Federn. Der Garten in seinen verschiedensten, genaustens aufeinander abgestimmten Grüntönen und die aus Marmorfliesen gearbeitete Terrasse unter dem Balkon – wie wundervoll sie doch dort lebten!
Das Schlagloch, gleich zu Beginn des ungeteerten Weges, in den ihr Vater jetzt einbog, warf Patty unsanft gegen die Außenverkleidung und riss sie aus den ersten, schönen Gedanken, seitdem sie in diesem Land angekommen waren. Falsch, dachte sie, gelebt hatten muss es heißen!
„Kannst du nicht aufpassen?“, fauchte sie zornig. „Meine ganze Frisur ist verrutscht!“
„Gleich sind wir da. Dort hinten, am Wald“, rief Matthew, um den ausbrechenden Zoff im Keim zu ersticken. „Es wird bestimmt interessant werden, all unsere neuen Nachbarn kennenzulernen!“
„Sehr interessant, bestimmt!“ Rachels Stimme klang zynisch. „Ich bin ja schon so wahnsinnig gespannt! Ich habe noch nie einen ehemaligen Revolverhelden getroffen. Wahrscheinlich kann er mir das Fest mit Abenteuergeschichten aus dem Wilden Westen versüßen! Und du kannst ja dann mit den Inhalten der neuesten Kinostreifen mitmischen!“
Matthew fiel nicht sofort eine passende Antwort ein, aber er hielt es sowieso für angebracht, den Mund zu halten. Wenn sich seine Frau in einer derartig reizbaren, bissigen Stimmung befand, sollte niemand es wagen, sie zu veranlassen, ihre scharfe Zunge in Gebrauch zu nehmen, auch er nicht.
„Was ist denn das?“ Verblüfft beugte Jean sich nach vorn, um besser erkennen zu können. Fasziniert starrte sie auf das, was sich vor ihnen auftat: Der Waldrand, auf den der Weg eben noch zugeführt hatte, war mit einem Mal auf gut einer Meile verschwunden. Dafür stand – wie ein einsamer Wachposten zwischen den auseinandergerissenen Bäumen – ein Windrad, so riesig, wie sie es noch nie gesehen hatte. Es erhob sich bis über die Wipfel der Baumkronen und die weiße Farbe seines Gerüsts schimmerte grell im Licht der Autoscheinwerfer.
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