Den Vormittag nutzte sie stattdessen, um ihre restlichen Kleidungsstücke und persönlichen Gegenstände aus den Koffern zu räumen und im Schrank nach besten Möglichkeiten zu verstauen. Danach war ihr langweilig. Was sollte sie unternehmen hier draußen, weit entfernt von jeder menschlich-vernünftigen Zivilisation? Keine Freundinnen, mit denen sie stundenlang telefonieren konnte, keine Einkaufszentren, wo sie mit ihnen herumbummeln konnte und auch kein Café, in dem sie für den Rest des Tages mit ihnen verschwinden und die Leute beobachten konnte. Wenn ihr Zuhause dann doch einmal gar nichts eingefallen war, was sie mit ihrer freien Zeit anstellen konnte, so hatte sie zumindest in eine Ballettstunde gehen können. Zwar fand sie diese Art von Sport nicht gerade vergnüglich, denn es war eine ungeheure Anstrengung, aber ihre Mutter bestand darauf, um „Haltung und Geist zu straffen“. Patty seufzte. Nichts war hier wie Zuhause, gar nichts! Wenigstens besaß diese Bruchbude – unerwarteterweise – elektrischen Strom und damit einen funktionstüchtigen Fernseher, ihr einziger, winziger Trost. Dieser sollte voerst Pattys wichtigste Beschäftigung werden.
Kurz nach halb ein Uhr, nachdem sie nicht zum Mittagessen erschienen war, steckte ihre Mutter den Kopf zur Türe ihres Zimmers herein und verkündete gutgelaunt: „Dein Vater und ich fahren nach Summersdale, zum einkaufen! Jean kommt auch mit. Dann können wir beide uns ein paar neue Kleider für heute Abend besorgen, was meinst du?“
„Was soll es da schon groß an besonderen Geschäften geben? Männerhosen und Leinenkleider im Schnitt eines Mehlsacks oder wie?“ Mürrisch wandte Patty sich ab und beugte sich zum Fenster hinaus, wo die Sonne angenehm warm hereinschien.
„Vielleicht lernst du gleich ein paar Mädchen kennen, die in deine Klassen gehen werden“, versuchte Rachel, sie ohne viel Geduld anzutreiben.
„Ach! Das ist doch nicht die richtige Gesellschaft für mich! Aber nimm ruhig Jean mit! Die passt hervorragend in diesen Haufen!“ Trotzig vergrub Patty das Kinn in ihren Händen. „Lass mich in Ruhe!“
„Na, schön. Wie du willst.“ Achselzuckend schlug Rachel die Türe ins Schloss. Die Schritte ihrer Stöckelschuhe verhallten und gleich darauf hörte Patty den Motor des Jeeps laut aufheulen. Nicht lange und das Geräusch wurde leiser, bis es keine Minute später verstummt war.
Kälte kroch über ihren Rücken herauf und ein Gefühl der Angst überfiel sie. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie jetzt ganz allein hier draußen in dieser Wildnis war, vollkommen allein und auf sich gestellt. Wenn nun ein wildes Tier oder sonst etwas Gefährliches aufkreuzte? Fieberhaft überlegte sie, welches wohl der sicherste Ort in dieser schrecklichen, baufälligen Hütte sein könnte und sie entschied, dass dies die Küche wäre. Wenn sie sich richtig erinnerte, führte eine Hintertür ins Freie, was bedeutete, dass ihr im Notfall zwei Fluchtmöglichkeiten zur Verfügung standen.
Vorsichtig schlich Patty die Treppe hinab in den Wohnraum, wo sie sicherheitshalber stehenblieb, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich alleine war. Jedes Knacken des Holzes ließ sie zusammenzucken und sie horchte angestrengt, ob nicht irgendwo doch eine unbekannte Gefahr auf sie lauerte. Während sie so dastand, am Ende der Stufen, drang mit einem Mal ein Poltern an ihr Ohr. Jemand klopfte an die Tür! Regungslos hielt Patty den Atem an und horchte angestrengt, doch das Pochen kam nicht wieder. Dafür erklang plötzlich eine rufende, männliche Stimme von draußen: „Hallo! Ist jemand zu Hause?“
Entsetzt fuhr Patty herum. Wer, um Himmels Willen, konnte etwas von ihnen wollen?! Durch das Fenster, rechts neben der Haustür entdeckte sie unter den Stufen des Vorbaus ein goldbraunes Pferd mit schwarzen Beinen. Ein Mann stand daneben und blickte um sich, als suche er jemanden.
„Hallo!“, rief er jetzt noch einmal, diesmal langgezogen. „Ist denn niemand da?“
Pattys Herz raste und ihre Gedanken kreisten wild durcheinander. Was sollte sie tun? Hinausgehen? Sie kannte den Kerl nicht und ihre Mutter hatte ihr ein Leben lang eingeschärft, fremden Männern gegenüber vorsichtig zu sein. Wer konnte ihr garantieren, dass die seltsame Gestalt mit dem Pferd nicht ein entflohener Häftling oder ein gesuchter Verbrecher war, der sie womöglich als Geisel benutzen wollte? Aber vielleicht brauchte er ja auch ihre Hilfe und am Ende trug sie an einem schrecklichen Unglück die Schuld, weil ihr Mut sie im Stich gelassen hatte?
Noch während sie herumwirbelte, in der verzweifelten Hoffnung nach einem Ausweg, fiel Pattys Blick auf das rostige, unbrauchbare Gewehr über dem Kamin und endlich erkannte sie ihre Rettung. Mit zitternden Händen hob sie die Waffe von ihrer Halterung herab. Sie war schwerer, als das Mädchen erwartet hatte. Ungeschickt drückte sie sich den Kolben an den Oberarm, wie sie glaubte, es im Fernsehen, in den Westernserien ihres Vaters schon beobachtet zu haben. Es gelang ihr, sich soweit zu beruhigen, dass sie wenigstens ein mutiges Gesicht zu dieser verzwickten Situation machen konnte, auch wenn sie innerlich zitterte. Nach kurzem Zögern riss Patty die Haustüre auf und trat langsam hinaus unter das Vordach.
„Hey!“, rief sie unfreundlich und fand, dass es sich bereits erschreckend amerikanisch anhörte. „Sie da, auf dem Pferd!“
Erstaunt zügelte der Reiter seinen Wallach, den er bereits zu einer Wendung hatte ansetzen lassen, um wieder davonzureiten. Als er sich jetzt zu ihr herumdrehte, glaubte Patty, in ihm den jungen Mann mit dem rotblonden, lockigen Haar vom Vortag vor dem Saloon in Silvertown zu erkennen.
Entflohener Häftling! Von wegen! So dämlich kannst auch nur du sein, Patricia Lorena van Haren! Daran sind allein dein Vater und diese Bruchbude schuld!
Mit einem amüsierten, geradezu unverschämten Grinsen hob der Reiter kurz seinen hellbraunen Cowboyhut vom Kopf und meinte: „Na, da sieh einer an! Ich dachte schon, es seien alle ausgeflogen!“
„Sie haben aber schnell unsere Adresse herausgefunden!“ Die Waffe in ihrer Hand gab Patty ein Gefühl von Sicherheit. Misstrauisch blinzelte sie den jungen Mann im hellen Sonnenlicht an. „Aber ich muss Sie enttäuschen, meine Schwester ist in Ihre Filmstadt gefahren. Dort können Sie nach ihr suchen.“
„Trey Stockley“, stellte dieser sich mit gespielter Erschrockenheit vor. „Das nur, damit Sie meinen Namen wissen, wenn Sie mich unbeabsichtigt beerdigen müssen, junges Fräulein!“ Sein Pferd begann, ungeduldig mit dem Huf zu scharren und er tätschelte es beruhigend am Hals. „Ich stimme dir vollkommen zu: Aus irgendeinem Grund, der mir noch verborgen geblieben ist, scheinen wir der englischen Lady nicht zu gefallen!“
Sein witzelnder Tonfall weckte den Zorn in Patty, der im Moment ohnehin an der Oberfläche brodelte. Er schien sie nicht einmal für ernst zu nehmen!
„Was mit Ihnen passiert, liegt allein in Ihrer Hand!“ Verächtlich rümpfte sie die Nase. „Musst du übrigens nicht zu deinen Rindviechern zurück, damit sie nicht abhauen…Cowboy?“
Er sah tatsächlich wie einer aus: Der Hut, die beige Jeanshose, die Stiefel und die braune Lederjacke.
„Ach, die kennen mich! Die wissen, dass bei mir brav dageblieben wird!“ Er zwinkerte übermütig und pfiff leise durch die Zähne. „Ehrlich gesagt wäre mir wesentlich wohler, wenn Sie mit dem Gewehr nicht auf mich, sondern auf den Boden zielen würden. Ich meine nur, falls sich ein Schuss löst. Ich weiß nicht, ob Ihre Schwester unbedingt mein Grab ausheben möchte.“
Wütend hob Patty die Waffe wieder ein wenig höher, denn allmählich wurden ihre Arme lahm, von dem schweren Gewicht.
„Hoffentlich sind Sie sich darüber im Klaren, dass das vielleicht Ihre letzte Möglichkeit gewesen ist, sich über mich lustig zu machen?“
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