Klapp brach der Angstschweiß aus. Ich konnte deutlich eine Vielzahl von Schweißperlen auf seiner Stirn glitzern sehen, während ich ihn über den Lauf der Schusswaffe in meiner Hand hinweg immer noch anvisierte. Er sah sich hektisch nach allen Seiten um und versuchte, die immer undurchschaubarer werdende Situation im Blick und auch ohne die Unterstützung seines älteren und erfahreneren Kollegen Gehrmann weiterhin unter Kontrolle zu behalten.
Erneut bewegte Klapp die Lippen, sodass ich wieder den Eindruck gewann, er würde leise beten. Doch dieses Mal sprach er wesentlich lauter, sodass ich ihn trotz des hohen Lärmpegels bruchstückhaft verstehen konnte.
»… dringend Verstärkung … spurlos verschwunden … Irren angegriffen … sofort … weiß nicht … irgendwo … dieser Station … verstanden!«
Schließlich entdeckte ich, als ich genauer hinsah, ein kleines unscheinbares Gerät, das mit einem Bügel an seinem Ohr befestigt war und von dem ein schmaleres Teilstück an seiner Wange in Richtung Mund ragte. Ich begriff, dass es sich dabei um das Headset eines Funkgerätes handelte, eine Kombination aus Kopfhörer und Mikrofon, mit dem Klapp in Kontakt zu einer weiteren Person stand.
Hätte ich in diesem Moment nicht mit hundertprozentiger Sicherheit gewusst, dass Gehrmann kein derartiges Gerät getragen hatte, als er gestorben war, wäre ich womöglich davon ausgegangen, Klapp versuchte in diesem Moment vergeblich, mit seinem inzwischen verstorbenen Kollegen Kontakt aufzunehmen. So aber stellte sich die entscheidende Frage, mit wem Klapp dann sprach. Und die niederschmetternde Antwort darauf konnte eigentlich nur lauten, dass Gehrmann und Klapp nicht allein gekommen waren, sondern weitere Männer ins Sanatorium eingedrungen waren, die möglicherweise damit beschäftigt gewesen waren, die anderen Stationen nach mir abzusuchen. Und nun befanden sich diese Männer, von ihrem panischen Kollegen Klapp alarmiert, vermutlich auf dem Weg hierher. Schließlich hatte Klapp ausdrücklich das Wort »Verstärkung« erwähnt. Und vielleicht hatte Klapp sie bereits beim ersten Anzeichen, dass hier etwas schiefzugehen drohte, informiert und jetzt nur noch einmal auf die Dringlichkeit hingewiesen, mit der er Unterstützung benötigte, sodass die Männer bereits näher waren, als mir lieb sein konnte. Ich wusste zwar nicht, mit wie vielen Gegnern ich es in diesem Fall zu tun bekommen würde, aber jeder weitere Angreifer wäre schon einer zu viel. Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich auch nicht vor, es herauszufinden, da es mir bestimmt mehr als nur die Laune verderben würde. Aber was sollte ich tun?
Obwohl sich Klapp im Augenblick in arger Bedrängnis befand und gar keine Gelegenheit hatte, auf mich zu achten, war ich hier dennoch nicht mehr sicher. Denn möglicherweise saß ich, sollte ich zu lange zögern, in der Falle. Ich musste also schnellstens von hier verschwinden, bevor die Verstärkung der beiden Attentäter auftauchte und meine Überlebenschancen damit auf schätzungsweise null Komma null Prozent sank.
Während ich gedanklich blitzschnell die wenigen Möglichkeiten durchging, die mir blieben, und sie hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit und Erfolgschancen abklopfte, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Geschehnisse im Flur.
Van Helsing hatte Klapp mittlerweile erreicht und versuchte fuchtelnd, ihm den Pfahl in die Brust zu rammen, so wie er es bereits bei Gehrmann erfolgreich praktiziert hatte. Allerdings handelte es sich hier nicht um einen Überraschungsangriff, mit dem niemand gerechnet hatte. Klapp konnte die Vorstöße des selbst ernannten Vampirkillers im Augenblick noch mühelos mit der schweren Schusswaffe in seiner Hand abwehren, die er aufgrund innerer Hemmungen scheinbar noch immer nicht ihrem eigentlichen Verwendungszweck gemäß einsetzen wollte. Doch Klapp geriet auch von anderer Seite in Bedrängnis, als plötzlich weitere Sanatoriuminsassen in den Kampf eingriffen, um ihrem Mitpatienten van Helsing zu helfen. Im Nu war Klapp von einem halben Dutzend wütender und panischer Bewohner umzingelt, die von allen Seiten mit bloßen Händen oder geballten Fäusten auf ihn losgingen. Allerdings fehlte den größtenteils ungezielten Hieben oftmals die Kraft, um Schaden anzurichten. Deshalb konnte Klapp die Schläge problemlos einstecken und seine Abwehrmaßnahmen stattdessen auf den gefährlichsten Gegner konzentrieren, mit dem er es zu tun hatte, und der hieß van Helsing und schwang einen gefährlich spitzen Holzpflock in der Hand. Wahrscheinlich spielte Klapp auf Zeit und hoffte, dass die Kavallerie schnellstmöglich eintraf und ihn aus dieser brenzligen Situation befreite.
Während der Auseinandersetzung umkreisten sich die beiden Hauptkontrahenten langsam wie ein Paar auf dem Tanzparkett. Als Klapp mir den Rücken zuwandte, sah ich endlich meine Chance, unentdeckt durch den Flur zu rennen und zu versuchen, das Treppenhaus zu erreichen, bevor Klapps Kollegen mir den einzig möglichen Fluchtweg versperrten. Da Gehrmann und Klapp hier höchstwahrscheinlich gewaltsam eingedrungen waren, ging ich davon aus, dass der Weg nach draußen unversperrt war. Wieso sollten sie auch hinter sich abschließen, wenn sie doch wieder den gleichen Weg in entgegengesetzter Richtung für ihre anschließende Flucht benutzen mussten.
Ich richtete mich rasch auf und rannte in den Gang. Dort wandte ich mich in Richtung Ausgang, musste allerdings die ständig anwachsende Menschentraube mit dem verzweifelten Klapp in ihrer Mitte passieren. Ich hoffte, dass der junge Mann mich nicht bemerkte, weil er zu sehr damit beschäftigt war, sich seiner Haut zu erwehren. Und falls er mich doch beim Vorbeilaufen entdeckte, würde er dennoch nicht so leicht auf mich anlegen und schießen können, da er weiterhin vor dem Holzpflock auf der Hut sein musste und sich zudem ständig weitere Patienten als Deckung zwischen uns schoben.
Ich umrundete zuerst die Menschenansammlung und passierte anschließend das Schwesternzimmer, ohne einen lauten Ausruf von Klapp zu hören, der mir zeigte, dass er meinen Fluchtversuch registriert hatte. Beinahe wäre ich auf den zahllosen Glasscherben ausgerutscht, die von der gesplitterten Trennscheibe stammten und den Boden übersäten. Ich konnte meinen Körper gerade noch abfangen und ging anschließend vorsichtiger und langsamer über dieses Minenfeld aus glitzernden Scherben.
Ich wandte kurz die Augen vom Boden und warf einen raschen Blick ins Schwesternzimmer. Die Nachtschwester saß noch immer auf dem Drehstuhl. Allerdings war sie nun mit mehreren Mullbinden, die Gehrmann in einem der Schränke gefunden haben musste, gefesselt worden, damit sie nicht weglaufen und Hilfe holen konnte. Auch um den unteren Teil ihres Kopfes war eine Mullbinde geschlungen worden, die ihren Mund vollständig bedeckte und sie so daran hinderte, laut um Hilfe zu rufen. Die junge Frau verfolgte meinen Weg über den Scherbensee aus geweiteten Augen. Ich winkte ihr mit der freien Hand zu, froh darüber, dass sie unversehrt war und es ihr den Umständen entsprechend ganz gut ging. Doch mehr konnte ich im Moment nicht tun. Wollte ich sie befreien, würde mich das nur kostbare Zeit kosten, die ich wahrscheinlich gar nicht mehr zur Verfügung hatte. Und am Ende würden wir beide geschnappt werden, wodurch sich meine persönliche Situation im Verhältnis zur augenblicklichen Lage wesentlich verschlechtert hätte. Außerdem ging ich davon aus, dass ihr nichts passieren würde, da es die Männer allein auf mich abgesehen hatten. Ansonsten hätte Gehrmann sich gar nicht erst die Mühe gemacht, sie dermaßen zu verschnüren, sondern hätte sie gleich erschossen. Was die Männer mit mir anstellen würden, wenn sie mich in die Finger bekamen, stand hingegen auf einem ganz anderen Blatt und war mit Sicherheit um ein Vielfaches unangenehmer.
Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Weg und lief schneller, nachdem ich den mit Glasscherben bedeckten Bereich unfallfrei hinter mich gebracht hatte. Während des restlichen Weges bis zur Tür ins Treppenhaus hoffte ich, dass nicht nur der Nachtschwester, sondern auch den Patienten, die Klapp attackierten – und unter diesen natürlich insbesondere mein spezieller Freund van Helsing – keine Gewalt angetan wurde, da die Männer schließlich nur hier waren, um mich zu töten. Alle anderen hatten mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun und waren mehr oder weniger zufällig hineingeraten.
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