Ich versuchte, aus den hämmernden Geräuschen die Anzahl der Personen herauszulesen, die es verursachten, gab es aber rasch wieder auf, weil es mir aussichtslos erschien. Ich schätzte allerdings, dass es sich mindestens um vier bis fünf Leute handeln musste, die Klapp in diesem Moment zu Hilfe eilten. Einerseits versetzte es mir zwar einen Schock, dass meine Feinde – um wen es sich dabei letztendlich auch handelte – so viel Personal einsetzten, um eine einzelne unbewaffnete und im Grunde wehrlose Person zu töten. Andererseits beruhigte es mich aber auch, denn wegen ihrer großen Zahl würden die Eindringlinge nicht gezwungen sein, ihre Schusswaffen einzusetzen, um sich der Insassen zu erwehren und Klapp aus ihrer Mitte zu befreien.
Erst als sich das Getrampel ein gutes Stück entfernt hatte, wagte ich es endlich, die angehaltene Luft auszustoßen und meine schmerzenden Lungenflügel mit frischem, dringend benötigtem Sauerstoff zu füllen. Ich musste mich förmlich dazu zwingen, noch ein paar Sekunden länger geduldig an Ort und Stelle auszuharren, und nutzte die Wartezeit, um mehrmals tief und gleichmäßig durchzuatmen, bis meine Lunge nicht mehr wehtat. Erst als sich meine Atmung wieder einigermaßen normalisiert hatte, öffnete ich vorsichtig die Tür und spähte um den Türrahmen herum den Gang hinunter.
Der Lärm hatte sich scheinbar proportional zur Größe der aufeinandertreffenden »Armeen« verstärkt. Mehrere Insassen, allen voran der unermüdliche van Helsing , der mittlerweile zwar seinen Pfahl verloren hatte, dafür aber das massive hölzerne Kreuz schwang, bedrängten Klapp immer noch von allen Seiten, wurden aber nun von dessen hinzukommender Verstärkung, die tatsächlich aus fünf groß gewachsenen und kräftigen Männern bestand, beiseite gedrängt. Keiner der Kombattanten schien bislang ernsthafte Verletzungen davongetragen zu haben, und niemand lag, soweit ich das sehen konnte, verletzt oder sogar tot am Boden. Nach den Warnschüssen in die Luft hatte ich auch keine weiteren gedämpften Schüsse gehört. Nun sah ich auch den Grund dafür, denn Klapp war mittlerweile entwaffnet worden und erwehrte sich der Attacken gegen seine Person nur noch mit den bloßen Händen. Die Schusswaffe musste ihm aus der Hand geprellt worden sein und lag nun wahrscheinlich inmitten der hin und her wogenden Körper am Boden. Hoffentlich bekam keiner der Insassen die Pistole in die Finger und schoss damit unkontrolliert und ungezielt um sich.
Die fünf Männer, die gekommen waren, um Klapp zu helfen, waren ebenfalls wie für ein geheimes Kommandounternehmen einer Elitearmee ganz in Schwarz gekleidet. Sie stürzten sich, glücklicherweise ohne nach ihren Waffen zu greifen, in das Gewühl, um ihren Kollegen aus der Umklammerung der Menschentraube zu befreien, und räumten die Patienten, die ihnen dabei im Weg standen, kurzerhand rechts und links zur Seite.
Zahlreiche weitere Insassen standen unentschlossen im Gang herum. Einige davon starrten gebannt auf das Handgemenge, als würde der Anblick eine ungewohnte Faszination auf sie ausüben. Manch einer unter ihnen grinste oder lachte sogar und hüpfte aufgeregt auf und ab angesichts dieses Spektakels, das jedes Fernsehprogramm bei Weitem in den Schatten stellte. Aber es gab auch andere, für die das Geschehen wesentlich beängstigender sein musste. Zwei oder drei kauerten am Boden, den Rücken gegen die Wand gepresst, hatten ihre Gesichter in den Händen vergraben und schaukelten auf den Fußsohlen vor und zurück. Andere wiederum hielten sich die Ohren zu und schrien selbst laut und gellend in dem von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch, den Kampflärm zu übertönen, der sie so beunruhigte. Natürlich trugen sie so erst recht wesentlich dazu bei, die bereits herrschende Kakophonie noch zu verstärken. Einige Patienten verhielten sich aber auch, als wäre alles ganz normal. Sie erschienen absolut teilnahmslos, lebten in ihrer eigenen Welt, zu der kein anderer Zugang hatte, und marschierten durch den Gang, als würden in ihrer unmittelbaren Nähe momentan nicht die Fetzen fliegen, sondern als nähme ihre Umwelt seinen normalen und geregelten Lauf.
Ich war der Meinung, nun mehr als genug gesehen zu haben, und riss meinen Blick von den vielfältigen und für einen Psychologen oder Verhaltensforscher wahrscheinlich faszinierenden Aspekten des Geschehens los. Im Augenblick waren alle übrigen auf der Station anwesenden Personen mit anderen Dingen beschäftigt, und niemand achtete auf mich. Daher schien nun der günstigste Zeitpunkt gekommen zu sein, mein Versteck im Putzraum zu verlassen und zum Ausgang zu rennen. Das Kampfgeschehen drohte sich nun rasch zugunsten der wesentlich kampferprobteren Eindringlinge und zuungunsten der Patienten zu entwickeln. Nur allzu bald würden die Leute, die gekommen waren, um mich zu töten, wieder Gelegenheit haben, durchzuschnaufen und verstärkt auf ihre Umgebung zu achten. Wenn ich dann noch immer hier war, hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes meinen Einsatz verpennt.
Also rannte ich auf den Flur und zur Treppenhaustür. Ich öffnete sie weit genug und trat hindurch, hielt sie dann jedoch mit meinem Körper weiterhin offen. Jetzt musste ich eigentlich nur noch loslaufen, während die Tür hinter mir zufiel, und die Stufen nach unten rennen. Aber zuvor hatte ich noch etwas Wichtiges zu erledigen.
Ich sah zurück zu van Helsing , Klapp und all den anderen, deren Namen ich nicht kannte. Mit Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand formte ich einen Ring und steckte ihn in den Mund. Der Pfiff, den ich ausstieß, war so laut und schrill, dass er die infernalische Geräuschkulisse mühelos übertönte. Ich hatte vorher gar nicht gewusst, ob ich dazu überhaupt in der Lage war, bis ich es einfach ausprobiert hatte.
Urplötzlich, als wäre mein Pfiff ein allgemein anerkanntes Mittel zur Eindämmung von Kampfhandlungen, kam jede Bewegung im Gang zum Erliegen und verstummte sogar das leiseste Geräusch. In der anschließenden, unnatürlich wirkenden Stille richteten sich die Augen nahezu aller Anwesenden – natürlich mit Ausnahme derjenigen, die in ihrem eigenen kleinen Sonnensystem lebten – auf den Ursprungsort des schrillen Geräusches und damit zwangsläufig, wie ich es geplant hatte, auf mich.
Die meisten Patienten starrten nur verständnislos oder mit einem absolut leeren Ausdruck zu mir herüber, da sie nicht begriffen, worum es ging. Aber es gab mindestens sechs Augenpaare, in denen von diesem Moment an langsam und zunehmend das Begreifen dämmerte.
»Hört mal her, ihr Idioten!«, rief ich und meinte damit nicht die Insassen des Sanatoriums. »Wenn ihr mich haben wollt, dann müsst ihr mich erst mal kriegen.« Anschließend lachte ich laut und selbst in meinen Ohren ziemlich unecht, um die Eindringlinge noch ein bisschen mehr zu reizen.
Insgeheim betete ich währenddessen, dass mein Plan auch tatsächlich so funktionierte, wie ich es mir ausgerechnet hatte. Der Sinn dieser schwachsinnigen Aktion war nämlich keineswegs reiner Übermut oder Dummheit, wie manch einer beim Lesen dieser Zeilen annehmen könnte. Vielmehr wollte ich damit in erster Linie erreichen, dass die Attentäter mir nachsetzten und die Patienten in Ruhe ließen, sobald sie erst einmal realisierten, dass es mir gelungen war, aus der Station zu entkommen. Deswegen konnte ich mich nicht einfach still und heimlich davonstehlen, sondern musste meinen Abhang effektvoller und publikumswirksamer inszenieren. Ich hoffte allerdings, dass tatsächlich alle Eindringlinge auf Klapps Hilferuf reagiert hatten und auf meinem Weg nach draußen nicht noch weitere Männer lauerten, die im nächsten Moment von dem noch reichlich konsterniert aus der Wäsche guckenden Klapp und seinen ebenso überrumpelten Kumpanen alarmiert werden würden.
Während sich der Lärm im nächsten Augenblick wie frisch entfesselt erhob, als wollte er das nach meinem schrillen Pfiff entstandene akustische Vakuum wieder so schnell wie möglich füllen, huschte ich bereits ins Treppenhaus und ließ die Tür los, die sich aufreizend langsam hinter mir schloss. Eilig lief ich die Stufen nach unten. Ich durfte keine einzige weitere Sekunde verlieren, denn die ersten Angreifer hatten sich bestimmt schon von ihrer Überraschung erholt und waren mir sicherlich bereits auf den Fersen.
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